Organisationsentwicklung: Das Rauschen des agilen Windes

Flexibilität ist in aller Munde – als Maxime zur Steigerung der unternehmerischen Resilienz in Zeiten einer globalen Pandemie und wirtschaftlicher Unsicherheit. Hängt der Erfolg der Agilität auf Organisationsebene von der Firmenkultur ab? [...]

(c) pixabay.com

Wer es schafft, sich flexibel an sich verändernde Umstände anzupassen, kann drohenden Gefahren ausweichen und sich bietende Chancen ergreifen (vgl. Robinson and Ettlin, 2020). Eine ähnliche Aussage findet sich auch in der Definition der agilen Organisation: «Von einer agilen Organisation spricht man, wenn ein Unternehmen oder eine Organisation nicht in starren Strukturen agiert, sondern vielmehr in der Lage ist, sich selbst durch proaktives und initiatives Verhalten an sich ändernde Bedingungen schnell anzupassen» (BWL-Lexikon.de, 2021).

Dass dies wahrlich keine neue Erkenntnis ist, zeigt uns Jeffrey Chaucer in seinem im 14. Jahrhundert geschriebenen epischen Gedicht «Troilus and Criseyde» mit der Parabel von der stolzen Eiche, die sich mit großer Stärke dem Sturm entgegensetzt und schließlich doch umgestürzt wird, sowie dem demütigen Schilfrohr, das sich im Wind biegt und so den Sturm unbeschadet überlebt. Die Ursprünge dieser Geschichte reichen bis weit in die Antike, nach Rom, Griechenland, Judäa und China – und stellen so richtiggehend einen Teil unseres menschlichen Erbes dar.

Hohe Flexibilität und schnelle Umsetzung als Erfolgsfaktoren

Zurück im Hier und Jetzt belegen verschiedene Studien die erkannte Notwendigkeit von Flexibilität und Agilität: «Seit Beginn der Krise hat fast jedes zweite kleine und mittlere Unternehmen (KMU) das Geschäftsmodell angepasst und damit den sich ändernden Kundenbedürfnissen Rechnung getragen – für die Zeit während der Krise oder auch darüber hinaus. Hohe Flexibilität und eine schnelle Umsetzung sind dabei entscheidend. Zudem ist der Transformationsprozess noch nicht abgeschlossen: Mehr als ein Viertel der KMU plant, das Geschäftsmodell auch in Zukunft anzupassen» (Credit Suisse AG, 2020).

Auch in der IT scheint diese Erkenntnis in der aktuellen Situation stark an Bedeutung gewonnen zu haben: Gemäß der jüngsten Swiss-IT-Studie weisen bei Schweizer IT-Entscheidern Projekte zu agiler Software-Entwicklung und -Wartung/DevOps unter den wichtigsten IT-Projekten gegenüber dem Vorjahr das stärkste Wachstum von über 60 Prozent auf.

Agilität wächst über Grenzen der IT hinaus

Dies ist nicht erstaunlich, da in vielen Unternehmen, die Software entwickeln, in den letzten 30 Jahren agile Methoden eingesetzt worden sind und die entsprechende Denkweise gefördert wurde.

Für geeignete Vorhaben liegen die Vorteile auf der Hand – der Fokus liegt auf möglichst früher und insgesamt maximaler Nutzenstiftung, wobei im Projektverlauf gewonnene Erkenntnisse und erkannte Chancen gezielt genutzt werden. Von derartigen Erfolgen angetrieben, wächst die Neugier und der Druck, diesen Erfolg auch auf andere Unternehmensbereiche auszuweiten.

Kein Widerstand, aber unterschiedliche Ideen

Diesen Weg hat auch bbv Software Services eingeschlagen, wo die Agilität von Software-Entwicklungsteams in das Selbstverständnis des Unternehmens übergegangen ist. Die Herausforderungen bei dieser Transformation waren nicht unbeträchtlich, die gemachten Erfahrungen kommen dem einen oder anderen Leser vielleicht bekannt vor:

«Eichen», die sich mit großer Kraft grundsätzlich dem agilen Wandel widersetzten, gab es kaum; verschiedene Ansichten, wie die Organisation agiler zu gestalten sei, hingegen viele. Es kristallisierten sich bald zwei Lager heraus, einerseits mit einem Ruf nach «Basisdemokratie», mit Anleihen aus der Holokratie, andererseits mit Lebenserfahrung, die einen solchen Enthusiasmus auf Ebene von Unternehmensführung als naiv abtaten.«

Mit Sicherheit wurde die Komplexität eines Dienstleistungsunternehmens mit Tätigkeiten sowohl im Kundenmarkt als auch im Expertenmarkt von manchen Verfechtern einer direkten Anwendung von Software-Agilität auf die gesamte Organisation unterschätzt», sagt Philipp Kronenberg, CEO der bbv-Gruppe, und fügt an: «Beinahe ebenso sicher wurde die Notwendigkeit von zusätzlicher fundamentaler Flexibilität im Unternehmen auf der anderen Seite unterschätzt – zumal der Geschäftsgang im Hier und Jetzt erfreulich war und inkrementelle Optimierungen an den bestehenden Prozessen doch ausreichend schienen.»

Zentraler Stellenwert der Firmenkultur

Die bis dato geleistete Auseinandersetzung mit der Firmenkultur, etwa mit dem großen Stellenwert von real gelebten Kulturprinzipien, bildete ein wertvolles – wenn nicht gar notwendiges – Fundament für den Dialog, der von den Ingenieursteams bis in den Verwaltungsrat geführt wurde. So wurde etwa in leidenschaftlichen Diskussionen immer wieder «Respekt» angerufen und Bezug auf «Mitverantwortung» (wem gegenüber?) sowie «Exzellenz» (in Bezug auf was?) genommen. «Kundenorientierung» galt als zentral für eine Dienstleistungsorganisation (was ist mit den Aktionären?).Eine Art Nordpolarstern bildete dabei die Unternehmensvision, die dank bewusster Entwicklung und im Bewusstsein der großen Tragweite und Wirkung einer visionären Vision (Robinson, 2016) breite Akzeptanz und Wirkung genoss.

So lernten alle Beteiligten in einem bisweilen frustrierenden, aber meist als bereichernd empfundenen mehrmonatigen Dialog, den Hintergrund pointierter Aussagen zu verstehen und wohl auch die Erfahrung der jeweils Andersdenkenden zu schätzen. In der vorliegenden Unternehmenskultur bildete das Ringen nach einem gemeinsamen Weg ein typischer Fall für Entscheidungsfindung nach dem Konsensprinzip – zu wertvoll schien die entstehende und immer wieder in Gefahr gesehene Chance für einen sogenannt gut schweizerischen Kompromiss.

Am Ende des danach sogleich weitergeführten Dialogs stand ein neues Element im Unternehmensmodell, das «Corporate Understanding». Dass dieses Selbst-Verständnis seinen Namen verdient, bezeugt vielleicht genau die Tatsache, dass der gefundene Konsens in das Rauschen des Windes im unternehmensweiten Dialog übergegangen ist.

Fundierte Auseinandersetzung nötig

Gemäß der Computerworld-Swiss-IT-Studie sind unter den befragten IT-Entscheidern die meistgenannten Maßnahmen, um ein attraktives Arbeitsumfeld zu schaffen, Flexibilität bezüglich Arbeitszeiten und Arbeitsort. Wahrscheinlich hat die beschriebene, weit tiefergehende Transformation, mitsamt der einhergehenden Kulturentwicklung, einen Beitrag dazu geleistet, dass bbv Software Services im Arbeitgeber-Ranking der Handelszeitung und von Le Temps (Handelszeitung, 2021) im Bereich «Internet, Telekommunikation & IT» den ersten Rang erreicht hat.

Ob sich diese Transformation direkt auf andere Organisationen übertragen lässt, ist zu bezweifeln – zu unterschiedlich ist die Ausgangslage und die Historie einzelner Unternehmen. Genau wie es auf Ebene der Projekte zu kurz greift, unabhängig der Eigenschaften und Ziele aus fundamentaler Überzeugung agile Methoden anzuwenden. Wird aber die Investition in eine fundierte Auseinandersetzung mit dem individuellen Werdegang, der verfolgten Unternehmensvision, Strategie und Kultur getätigt, kann sich jede Eiche in ein flexibles Schilfrohr verwandeln – oder vielleicht doch lieber in ein Windrad?

Zum Autor: Alan Ettlin ist Berater bei bbv Consultancy


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