Österreich droht die digitale Zweiklassengesellschaft

Die Digitalisierung bei Österreichs Mittelstandsunternehmen nimmt zu und lässt die Schere zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Betrieben weiter auseinandergehen. Unternehmen mit guter Geschäftslage und guter Geschäftsprognose setzen deutlich stärker auf Digitalisierung als jene mit schlechter Geschäftslage und negativen Aussichten. Zu diesem Ergebnis kommt die Beratungsorganisation EY. [...]

Allgemein hat die Bedeutung von digitalen Technologien für Österreichs Unternehmen im Vergleich zur letzten Befragung im August 2016 leicht von 56 Prozent auf 58 Prozent zugenommen. Damit setzt deutlich mehr als die Hälfte auf digitale Technologien für das eigene Geschäft. Österreichs Betriebe liegen damit fast gleichauf mit Unternehmen in Deutschland (57 Prozent) und der Schweiz (60 Prozent).
Generell würden viele Unternehmen in Österreich gerne mehr in die Digitalisierung investieren. Vielen fehlt es dafür aber momentan an Geld und Personal: Für 16 bzw. elf Prozent sind das die beiden größten Hindernisse, mehr in digitale Technologien zu investieren. Neun Prozent fehlt nach eigenen Angaben das nötige Know-how. EY hat für die Studie 900 mittelständische Unternehmen mit 30 bis 2.000 Mitarbeitern in Österreich befragt. 
„Der österreichische Mittelstand steht am Scheideweg“, so Martin Unger, Partner bei EY Österreich. „Viele Betriebe tun momentan das, was sie schon seit Jahren und Jahrzehnten auszeichnet: Sie passen sich flexibel an neue technologische Möglichkeiten an und schaffen es, ihr Geschäftsmodell durch innovative Produkte weiterzuentwickeln. Einige andere drohen jedoch den Anschluss zu verlieren. Sie investieren nicht genug in die Umstellung auf digitale Technologien oder finden nicht das geeignete Personal. Die Gefahr einer digitalen Zweiklassengesellschaft in Österreich steigt.“ 
Aus Sicht von Unger erhöhe sich dadurch die Gefahr einer gefährlichen Abwärtsspirale. „Unternehmen mit aktuell schwieriger Geschäftslage fehlt das Geld für Investitionen in digitale Technologien und geeignete Fachkräfte. Gleichzeitig sind jene, die bereits die richtigen technologischen Weichenstellungen für die Digitalisierung gemacht und fähiges Personal eingestellt haben, deutlich erfolgreicher. Für Unternehmen ergeben sich dadurch neue Geschäftsmodelle und Wachstumsmöglichkeiten – wenn sie die Digitalisierung als Chance begreifen. Unternehmen, die zu lange an einem veralteten Geschäftsmodell festhalten, werden zu den Verlierern gehören. Wer jetzt nicht auf den Zug der digitalen Revolution aufspringt, wird auf der Strecke bleiben“.
Mehrheit sieht Digitalisierung als Chance
Für die Mehrheit von Österreichs Betriebe ist das Glas jedenfalls halb voll: Zwei Drittel (66 Prozent) der Unternehmen sehen in der Digitalisierung generell eine Chance für sich, 16 Prozent sogar uneingeschränkt. Nur jedes elfte Unternehmen (9 Prozent) betrachtet die Digitalisierung als Bedrohung. Allerdings würden auch hier die Einschätzungen variieren: „Die digitale Kluft unter den österreichischen Unternehmen zeigt sich ganz deutlich: Während 70 Prozent der momentan erfolgreich wirtschaftenden Unternehmen die Digitalisierung als Chance begreifen, sind es bei weniger erfolgreichen nur 57 Prozent. Es ist sehr gefährlich, wenn die digitale Transformation als Luxus gesehen wird, den sich nur Unternehmen mit einer aktuell guten Performance leisten können. Die Evaluierung und Anpassung des eigenen Geschäftsmodells an eine digitale Wirtschaftsrealität ist keine Frage des ‚ob‘, sondern des ‚wann‘ – und dabei gilt die Devise ‚je früher desto besser‘“.
Die Wichtigkeit der Digitalisierung scheinen österreichische Unternehmen jedenfalls erkannt zu haben: 83 Prozent erwarten, dass die Bedeutung digitaler Technologien für ihr Geschäftsmodell in den kommenden fünf Jahren steigen wird. Bei der vorangegangen Befragung im August 2016 gingen lediglich 74 Prozent von einer steigenden Bedeutung aus. Unter den Unternehmen mit guter Geschäftslage und positiven Aussichten rechnen sogar 89 Prozent damit, dass die Digitalisierung noch wichtiger wird – bei den aktuell weniger erfolgreichen sind es hingegen nur 71 Prozent. 
Große Unternehmen eilen davon
Wenn es darum geht, neue Technologien für das eigene Geschäft zu nutzen, spielt auch die Größe des Unternehmens eine entscheidende Rolle: So nutzen zwei von drei Unternehmen (66 Prozent) mit einem Umsatz von über 100 Millionen Euro digitale Technologien für ihr Geschäftsmodell. Bei kleineren Unternehmen mit einem Umsatz von unter 30 Millionen Euro geben hingegen nur 56 Prozent an, dass digitale Technologien eine große Bedeutung haben. 
Bei der Bewertung, ob die Digitalisierung eine Chance oder eine Bedrohung ist, sieht die Verteilung ähnlich aus. Jedes vierte Großunternehmen (25 Prozent) sieht darin eindeutig eine Chance, wohingegen nicht einmal jedes siebte kleinere Unternehmen (14,2 Prozent) die Digitalisierung ähnlich positiv beurteilt. EY-Partner Martin Unger rät auch kleineren Betrieben, offen für die Digitalisierung zu sein und nach Lösungen zu suchen: „Kein Unternehmen wird sich der Digitalisierung entziehen können. Die digitale Transformation ist längst in Gang und nimmt immer mehr zu. Auch kleine Unternehmen können mit digitalen Technologien ihre Lieferketten optimieren, Kundenbeziehungen pflegen oder kleine Stückzahlen bis Losgröße Eins herstellen. Sie werden so flexibler und sparen Geld, Zeit sowie Ressourcen. Kooperationen können deshalb eine sinnvolle Alternative sein, wenn im Betrieb das Geld oder das Wissen für eigene digitale Lösungen fehlt.“
Finanzdienstleister und Handelsunternehmen am weitesten
Im Branchenvergleich weisen Finanzdienstleister und andere Dienstleister in Österreich aktuell den höchsten Digitalisierungsgrad auf: Für 74 Prozent spielen digitale Technologien bereits jetzt eine große Rolle für das eigene Geschäftsmodell, für mehr als ein Drittel (35 Prozent) sogar eine sehr große. Auch im Handel (73 Prozent) und im Bereich Transport und Verkehr (72 Prozent) haben bereits verhältnismäßig viele Unternehmen ihr Geschäftsmodell an neue technologische Möglichkeiten angepasst. 
„Gerade in der Bankenbranche ist der Veränderungsdruck durch die Digitalisierung besonders groß und besonders früh eingetreten. Die Angebote von Non-Banks haben die klassischen Filialbanken zu Anpassungen und Weiterentwicklungen ihres digitalen Angebots gezwungen, weil Kunden ihre Bankgeschäfte zunehmend über Smartphone oder Computer abwickeln. Im Handel ist die Situation ähnlich, da die Konkurrenz durch Online-Shopping-Anbieter groß ist. In diesen Branchen haben Unternehmen schon früh die Weichen in Richtung Digitalisierung gestellt. Dementsprechend ist der Digitalisierungsgrad dort auch besonders hoch“, so Unger. Aufholbedarf gibt es hingegen bei Österreichs Industrieunternehmen: In den Sektoren Metallerzeugung und -bearbeitung (35 Prozent) und Maschinenbau (41 Prozent) spielen digitale Technologien momentan für die wenigsten Unternehmen eine Rolle.
Wiens Betriebe bauen Vorsprung aus
Im Bundesländer-Ranking liegen Unternehmen mit Sitz in Wien eindeutig vorne: 68 Prozent geben an, dass die Digitalisierung bereits jetzt große Bedeutung für das eigene Geschäftsmodell hat – um zwei Prozentpunkte mehr als bei der letzten Befragung im August 2016. Damit baut Wien seinen Vorsprung als digitaler Hotspot weiter aus und liegt deutlich vor Tirol (62,6 Prozent) und Salzburg (60,6 Prozent). Schlusslichter sind Niederösterreich (48 Prozent) und das Burgenland (54 Prozent).  
Am optimistischsten eingeschätzt wird die Digitalisierung in Oberösterreich: Dort sehen sie 76 Prozent als Chance. Dahinter folgen die Steiermark (73 Prozent) und Wien (71 Prozent). Am negativsten eingestellt sind Unternehmen im Burgenland: Dort sieht nicht einmal die Hälfte (47 Prozent) eine Chance in der Digitalisierung.
Vor allem die Kundenbeziehungen werden inzwischen digital organisiert: 68 Prozent der Unternehmen nutzen digitale Technologien dafür. Mobile Endgeräte wie Smartphones oder Tablets werden inzwischen in 62 Prozent der Unternehmen eingesetzt. Eine automatisierte Produktion (Industrie 4.0) nutzen jedoch nur 26 Prozent der Unternehmen, sogar nur 14 Prozent bieten eigene digitale Produkte an. Demensprechend sehen Österreichs Unternehmen im Funktionsbereich „Produktion“ auch den geringsten Einfluss (56 Prozent) von digitalen Technologien – an der Spitze liegt das Rechnungswesen (81 Prozent).
„Viele Unternehmen sind sich der Einsatzmöglichkeiten von digitalen Technologien noch gar nicht vollständig bewusst“, beobachtet Martin Unger. „Insbesondere im klassischen verarbeitenden Gewerbe halten digitale Lösungen erst langsam Einzug in die Fabrikhallen. Vorreiter sind hier die großen Konzerne. Kleinere Unternehmen warten eher ab und beobachten, wie sich der Markt entwickelt.“
Daraus würden sich aus Sicht von Unger allerdings auch neue Geschäftsmodelle für Anbieter von digitalen Technologien ergeben: „Es besteht noch viel Luft nach oben für digitale Lösungen als Baukastensystem für mittelständische Betriebe. So können kleinere Unternehmen, denen Geld und Personal für eigene Lösungen fehlen, auf offene Plattformen zurückgreifen. Wir werden in Zukunft vermehrt solche Dienstleistungen für kleine und mittlere Unternehmen auf dem Markt sehen.“
Vertrieb wird digitalisiert
Einen besonders weitreichenden Einfluss von digitalen Technologien sehen österreichische Unternehmen im Vertrieb: Insgesamt 80 Prozent schreiben ihren Vertriebskanälen eine erhebliche Bedeutung zu, 41 Prozent sogar eine große. „Digitale Technologien bieten speziell in Branchen mit komplexeren mehrdimensionalen Vertriebs- und Marketingkanälen wie zum Beispiel Handel, Banken, Industrie oder Energieversorgung enorme Möglichkeiten. Die Mehrheit der Unternehmen hat das erkannt und schreibt die digitale Kundenbeziehung ganz oben auf ihre Agenda“, sagt der EY-Partner.
„Allerdings werden die einzelnen Kanäle in der Digitalisierungsdebatte momentan noch sehr isoliert betrachtet. Um das gesamte Potenzial digitaler Technologien zu nutzen, braucht es eine mit Data Analytics untermauerte Omnichannel-Strategie. Mit einer einheitlichen Ansprache während der gesamten Customer Journey über alle Kanäle hinweg lassen sich enorme Potenziale im Vertrieb verwirklichen“, so Unger abschließend.

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