Predictive Analytics als Recruiting-Tool

In der Recruiting-Praxis stellen Predictive Analytics eine noch wenig eingesetzte Ergänzung zu klassischen Auswahlverfahren dar und ermöglichen einen Blick in die Zukunft: Wer wird eine Stelle voraussichtlich am erfolgreichsten ausüben? [...]

„Wir hören bei der Personalauswahl lieber auf unser Bauchgefühl. So erkennen wir sicher, wer wirklich ins Team passt.“, „Die fachliche Eignung unserer Bewerber erfragen wir im persönlichen Gespräch.“ oder „Solche Verfahren sind zu aufwändig und geben doch nicht mehr Sicherheit als unser klassischer Auswahlprozess.“ Solche und ähnliche Vorbehalte hegen viele Personaler, wenn es um den Einsatz diagnostischer Verfahren im Recruiting geht.
Für Personalverantwortliche wird es demnach zunehmend schwierig, Bewerbungsunterlagen miteinander zu vergleichen. Nicht zuletzt durch die Zuwanderung internationaler Fachkräfte lassen sich Schulnoten, Ausbildungszeiten, Auslandserfahrungen oder praktische Einsätze kaum noch als Entscheidungsgrundlage heranziehen. Entweder diese sind aufgrund der internationalen Herkunft der Bewerber zu heterogen oder die eingehenden Unterlagen ähneln sich aufgrund einschlägiger Bewerbungscoachings in einem Maße, dass Lebensläufe, Arbeitszeugnisse und Anschreiben nahezu austauschbar wirken.
Sollen Stellen langfristig und zielgenau besetzt werden, sollten Unternehmen auf eine objektive und valide Beurteilung ihrer Bewerbungen setzen. Wo die Sichtung von Bewerbungsunterlagen kaum noch nachhaltige Entscheidungsgrundlagen liefert, ermöglichen prädiktive Verfahren auf Basis von Online-Assessments einen Blick in die Zukunft und geben Personalverantwortlichen statistische Prognosen dazu, welcher Bewerber eine Stelle aller Wahrscheinlichkeit nach am erfolgreichsten ausüben wird.
Dabei belegen Studien, dass Unternehmen, die im Recruiting auf Predictive Analytics setzen, Produktivitätszuwächse von zehn bis fünfzehn Prozent erzielen. Die Besetzungskosten sind beim Einsatz solcher Verfahren gering im Vergleich dazu, was die am besten zu den Anforderungen passende Person für das Unternehmen erwirtschaften kann.
Predictive Analytics als Basis für die persönliche Begegnung
Ein Kritikpunkt an Online-Assessments ist häufig die fehlende persönliche Komponente zwischen Bewerber und Unternehmen. So wird immer wieder angemerkt, dass High Potentials im Testverfahren die Begegnung auf Augenhöhe vermissen würden oder sie zweifelten gar am Urteilsvermögen der Entscheider.
Beides würde ein negatives Licht auf das Unternehmen werfen und Professionals, die aufgrund des Fachkräftemangels immer häufiger die Wahl zwischen mehreren ansprechenden Jobangeboten hätten, von einer Stellenannahme abhalten. Dabei können Personalverantwortliche die Ergebnisse der prädiktiven Verfahren ebenso als Grundlage für anschließende persönliche Gespräche mit den am besten passenden Bewerbern anwenden.
Diese Methodenkombination erlaubt es, im Interview auf die jeweilige Person einzugehen und Informationen gezielt zu sammeln, um weitere Prognosesicherheit zu gewinnen. Hierbei können die Ergebnisse aus dem Online-Assessment helfen, da sie Hinweise bieten, welche Themen gezielt vertieft werden müssen.
Für die Kandidaten, die im Anschluss an die Auswertung des Online-Assessments eine Ablehnung erhalten, erlauben die objektiven Analyseergebnisse auf Anfrage ein transparentes Feedback zur Entscheidungsfindung. In beiden Fällen tragen die unvoreingenommen gesammelten Daten zu fairen Bewerbungsbeurteilungen bei und können als Grundlage für die persönliche Begegnung herangezogen werden.
Objektive Werkzeuge zur Identifikation von Potenzialträgern
Je bekannter das Unternehmen, desto mehr Lebensläufe, Zeugnisse und Anschreiben gilt es zu vergleichen. In der Flut von Bewerbungen diejenigen Menschen zu identifizieren, deren Eigenschaften und Fertigkeiten am besten zu den Anforderungen der Stelle passen werden, ist eine geschäftskritische Entscheidungsaufgabe. In der Praxis kommen bei diesem Blick in die Zukunft aber nicht selten wenig valide Heuristiken zum Einsatz, wie beispielsweise:
  • „Wer die beste Abiturnote hat, kommt eine Runde weiter.“
  • „Wer besonders schnell studiert hat, erbringt bessere Leistungen.“
  • „Wer im Ausland war, bringt mehr Flexibilität mit“.
Das Risiko von falsch negativen Entscheidungen, also solchen, bei denen man den passenden Bewerber fälschlicherweise nach Hause schickt, wächst gerade, weil diese Heuristiken routinemäßig zum Einsatz kommen, ohne dass Zeit bleibt, sie systematisch am Erfolg zu prüfen.
Um die Potenzialträger, auch unter den besonderen Rahmenbedingungen der Zuwanderung, zu identifizieren, haben Personalabteilungen die Möglichkeit mit Hilfe bestimmter Werkzeuge Stellenanwärter unabhängig zu bewerten. Eine besonders hohe prognostische Validität weist in Untersuchungen der klassische Intelligenztest auf. Er ermittelt unter anderem Merkmale wie:
  • Abstraktionsfähigkeit
  • logisches Denken
  • Problemlösungsfähigkeit
  • räumliches Denkvermögen oder Gedächtnisleistungen.
Aber nicht nur eine bestimmte Intelligenzausprägung entscheidet über Erfolg im Job, je nach Stellenprofil benötigt ein Bewerber auch ein bestimmtes Maß an Durchsetzungsvermögen, Kritikfähigkeit, Motivation oder Resilienz – die Fähigkeit, Misserfolge zu bewältigen. Grundlage eines jeden Bewerbungsverfahrens sollte deswegen eine genaue Anforderungsanalyse sein: Welche Merkmale und Ausprägungen muss ein Kandidat zur erfolgreichen Ausübung der stellenspezifischen Aufgaben mitbringen?
Diese Merkmale lassen sich in psychologisch fundierten Online-Assessments erfassen und stellen die Datengrundlage für anschließende prädiktive Analysen dar. Dabei gilt es für Unternehmen, etwaige datenschutzrechtliche Fallstricke von vornherein zu vermeiden, indem die Bewerber im Rahmen des Test-Verfahrens eine Einverständniserklärung zur Datenspeicherung und zur Verwendung ihrer Daten mit belegtem Zusammenhang zur späteren Leistung geben.
Mit Predictive Analytics Aussagen über Entwicklungspotenziale treffen
Mithilfe der im Online-Assessment geschaffenen Datenbasis und darauf aufbauenden Predictive Analytics lässt sich im Bewerbungsprozess beispielsweise ermitteln, wie gut ein Bewerber den Anforderungen an eine Stelle entspricht, und abschätzen, wie erfolgreich er seine Aufgaben in Zukunft ausführen wird. Damit können Personaler trotz Fachkräftemangel die potenzialträchtigsten Bewerbungen für eine spezifische Stelle ermitteln. Und auch die „Hidden Champions“, die aufgrund bestimmter Heuristiken auf den ersten Blick eher nicht ins Raster passen, können sich so identifizieren lassen.
Predictive Analytics ermöglichen neben der Bewertung von heterogenen Bewerbungen anhand objektiver Kriterien auch weitere Anwendungsszenarien: Die gewonnenen Daten können mit Einwilligung der Bewerber ebenso im Hinblick auf die Mitarbeiterentwicklung, Potenzialanalysen oder die Nachfolgeplanung ausgewertet werden. Es ist beispielsweise möglich, Prognosen über Entwicklungspotenziale der Mitarbeiter aus den Daten abzuleiten. So hat man eine Methode, mit der man einschätzen kann, wer in Zukunft voraussichtlich Freude am Kundenkontakt haben wird, wer in drei Jahren Interesse an einer technischen Weiterbildung entwickelt, wer aller Wahrscheinlichkeit nach auf absehbare Zeit neue Herausforderungen suchen wird oder wer das Potenzial hat, Personalverantwortung zu übernehmen oder den eigenen Aufgabenbereich zu erweitern.
Solche Aussagen stellen eine valide Ergänzung zu den geläufigen Instrumenten und Methoden der Mitarbeiterentwicklung, wie zum Beispiel das Führen von Fördergesprächen, Talentreviews oder Development Centern dar. Durch die Methodenkombination lassen sich neben den aktuell erbrachten Leistungen auch die Entwicklungspotenziale valide abschätzen.
* Christian Montel ist Experte für psychologische Eignunsgdiagnostik sowie den Einsatz von Predictive Analytics und Big Data im Human Resource Management. Er ist Geschäftsführer sowie Head of Research and Development der ELIGO Psychologische Personalsoftware GmbH.

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