Im Projekt "Embodied Perceptions" unter Leitung des AIT Center for Technology Experience wird das Thema Schmerzen ganzheitlich und gendersensibel betrachtet: Das Projektteam forscht zu Möglichkeiten, subjektives Schmerzempfinden über 3D-Avatare zu visualisieren. [...]
Schmerzen und Krankheiten sind etwas höchst Subjektives, gleichzeitig sind sie nur durch Kommunikation vermittelbar – und dabei geraten Betroffene nicht nur an sprachliche Grenzen, sondern auch an Vorurteile und lokal geltende, soziale Normen. Erst seit den 1990er Jahren entwickelt sich die Gendermedizin und geschlechterspezifischer Medizin, die zu einem steigenden Bewusstsein für die unterschiedliche Schmerzursachen und kontextuellen Faktoren des subjektiven Leidensausmaßes von Frauen und Männern beiträgt.
Ein aktuelles Problem sind coronabedingte Langzeitfolgen und Schmerzen, die bei Betroffenen sehr unterschiedlich stark auftreten und noch vollständig erforscht werden müssen. Oftmals werden Frauen und ihre Schmerzen und Symptome belächelt und nicht ernst genommen. Aktuell findet man in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #frauenticket eine Welle an Postings und Meldungen, wonach mehrheitlich Frauen darüber berichten, dass ihre Schmerzen manchmal jahrelang nicht ernst genommen wurden, oftmals als psychische „Spinnerei“ abgetan und somit nicht entsprechend behandelt wurden. Vor allem bei noch wenig beforschten oder neuen Krankheitsbildern wie Long Covid leiden Betroffene unter diesem “medical gaslighting“: Ärzte sowie Ärztinnen negieren dabei die Schmerzen der Frauen bzw. werden sie damit tatsächlich falsch behandelt.
Schmerz-Aspekte werden visualisiert
Genau hier setzt das Projekt „Embodied Perceptions“ (dt. „verkörperte Wahrnehmungen“) an, das im September unter Leitung des AIT Center for Technology Experience gestartet wurde. Im Projekt sollen die Grundlagen für eine userzentrierte Plattform entwickelt werden, die es den Patienten und Patientinnen ermöglicht, ihre persönlichen Schmerzempfindungen in 3D-Technologie zu visualisieren. Verschiedene Aspekte des Schmerzes – wie Intensität, Ort, Ausbreitung und Art des Empfindens – sollen mithilfe von Visualisierungsmethoden präzise dargestellt und so von Außenstehenden, wie dem medizinischen Personal, klar und schnell erfassbar gemacht werden. Diese Visualisierung soll sowohl Betroffenen selbst, aber auch medizinischem Personal helfen, die Beschwerden genauer zu kommunizieren und zu interpretieren. Insbesondere Menschen mit jeglichen körperlichen oder kognitiven sprachlichen Einschränkungen könnten davon profitieren. Damit eröffnet sich für alle Beteiligten eine völlig neuartige Dimension zu personalisierten Diagnose- und Behandlungsansätzen.
Schmerz besser verstehen und gezielter behandeln
„Schmerz ist eine hochindividuelle und oft schwer zu beschreibende Erfahrung. Im Projekt ‚Embodied Perceptions‘ wollen wir Wege finden, Schmerz sichtbar und verständlich zu machen“, betont Diotima Bertel, Projektleiterin am AIT Center for Technology Experience. „Durch diversitätssensible 3D-Visualisierungen können Patient:innen ihre Empfindungen auf eine neue Art ausdrücken. Das hilft dem medizinischen Personal, den individuellen Schmerz der Patient:innen besser zu verstehen und gezielter zu behandeln“, erklärt Bertel. Am AIT Center for Technology Experience gibt es langjähriges und interdisziplinäres Knowhow zur Entwicklung gendersensibler, userzentrierter Technologien sowie auch zur Evaluation von Technologien mithilfe von User-Studien.
„Besonders bei chronischen Schmerzpatient:innen besteht oft das Problem, dass Schmerz schwer in Worte gefasst werden kann und traditionelle Schmerzbögen nicht ausreichen, um das Ausmaß der Beschwerden vollständig zu erfassen“, erläutert Beatrix Wais-Zechmann, Physiotherapeutin und Forscherin am AIT Center for Technology Experience. „Mit der neuen Plattform werden wir eine Brücke zwischen den subjektiven Schmerzempfindungen der Patient:innen und der medizinischen Analyse schaffen“, ist Wais-Zechmann überzeugt.
Zudem werden im Projekt die Rolle von sozialen Normen und die Möglichkeiten zur Kommunikation über Schmerzen erforscht, um dem „medical gaslighting“ entgegenzuwirken. Am AIT wird im ersten Schritt zunächst die Anforderungsanalyse für diversitätssensible Visualisierungen von Schmerzen erarbeitet – inklusive empirischer Erhebungen und Abhaltung von Co-Design-Workshops. Danach wird in Zusammenarbeit mit den Projektpartner:innen und Patient:innen ein „Schmerzframework“ entwickelt, das als Basis für die Entwicklung der Online-Pattform dient.
Einfluss sozialer Normen und Sozialisation
Bei der Wahrnehmung und Äußerung von unangenehmen Empfindungen wie Schmerz spielen die in der Gesellschaft gängigen Normvorstellungen und die damit einhergehende Sozialisation eine entscheidende Rolle. Die in der Vergangenheit priorisierte Betrachtung männlicher Erfahrungen in der Medizin führte zu einem „Health Data Gap“, sodass heute insbesondere frauenspezifische Schmerzen und Krankheiten wie etwa Endometriose (eine gynäkologische Erkrankung) wenig erforscht und daher in der medizinischen Community kaum präsent sind. Darüber hinaus beeinflussen soziale Normen, welche Formen von Schmerz sozial akzeptiert und kommuniziert werden dürfen. Dies unterstreicht die Bedeutung der Gendermedizin im Zusammenhang mit der Schmerzdiagnostik und -behandlung. „Embodied Perceptions“ trägt dazu bei, diese Unterschiede sichtbar zu machen und damit zu einem besseren Verständnis und differenzierten Therapiemaßnahmen beizutragen.
Ausblick: Schmerztherapie digital unterstützt verbessern
„Embodied Perceptions“ profitiert von der engen Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Fachdisziplinen und langjährig erfahrenen Partnern. Neben dem AIT als Projektkoordinator sind der Verein EURAG Österreich/Allianz Chronischer Schmerz (Patient:innen-Perspektive), die Akademie für Altersforschung am Haus der Barmherzigkeit als führende Institution in der Langzeitpflege, das Software-Kompetenzzentrum RISC sowie das Technologieunternehmen SYNYO Teil des Konsortiums. Diese interdisziplinäre Expertise stellt sicher, dass im Projekt sowohl praxisorientierte als auch digital innovative Lösungen entwickelt werden.
„Wir sehen großes Potenzial in der Anwendung von 3D-Visualisierungen, nicht nur für die Kommunikation zwischen Patient:innen und medizinischem Personal, sondern auch in der Erforschung von Schmerzzuständen bei (neuen) Krankheitsbildern wie Long Covid, neuen Therapieansätzen und in der medizinischen Ausbildung“, ergänzt Diotima Bertel. „Das Projekt soll langfristig die Art und Weise verändern, wie Schmerz geschlechts- und diversitätssensibel dokumentiert und verstanden wird“, so die Forscherin. Das Projekt „Embodied Perceptions –Diversitätssensible Darstellung und Visualisierung von Körperdate““ wird im Zuge der FFG Ausschreibung FEMtech 2023 gefördert und läuft seit September 2024 für 30 Monate.
Weitere Information unter AIT Austrian Institute of Technology und AIT Center for Technology Experience.
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