AR ohne Brille? Gibt es demnächst, was vor allem Werbetreibende freuen wird. Es nennt sich "parallele Realität". [...]
Ein Bildschirm, ein Benutzer – das ist die heutige Realität. Aber was wäre, wenn ein einziger Bildschirm Hunderte von Benutzern individuell bedienen kann – und das zur selben Zeit? In Steven Spielbergs Science-Fiction-Film „Minority Report“ aus dem Jahr 2002 kommen Werbetafeln mit personalisierter Werbung vor, die jeden Passanten mit seinem Namen ansprechen. Jede öffentliche holografische Reklametafel wird für einige Sekunden privat, zielgerichtet und personalisiert, während man vorbeigeht.
In der Realität würde die Öffentlichkeit wahrscheinlich das Minority Report-Modell ablehnen, in dem persönliche Daten dazu verwendet werden, öffentliche Werbung zu triggern. Wie die Kongressanhörung von Facebook-CEO Mark Zuckerberg gezeigt hat, kommen Öffentlichkeit und Politiker angesichts von Datenschutzverletzungen durch Unternehmen schnell an ihre Grenzen, die persönliche Informationen nutzen, um zielgerichtete Werbung zu schalten.
Aber für Werbung à la Parallel Reality sind keine persönlichen Daten erforderlich. Bereits vor anderthalb Jahren änderte eine Werbetafel in Moskau das Sujet auf Basis der vorbeifahrenden Fahrzeuge. Die Reklametafel wurde von Synaps Labs entworfen, die Hochgeschwindigkeitskameras 180 Meter vor der virtuellen Plakatwand verwendeten, um Fotos von Autos zu machen. Machine-Learning-Software bestimmte die Marke und das Modell jedes Autos. Der Zweck war, Anzeigen für Jaguars teuren, neuen SUV für jene Fahrer zu schalten, die bereits teure Autos besaßen.
Das Unternehmen hat seine Technologie seitdem weiterentwickelt und Plakatwände in ganz Russland und den Vereinigten Staaten installiert. Anstatt persönliche Daten zu sammeln und zu verwenden, nutzt das Werbetafelsystem von Synaps Informationen, die öffentlich sichtbar sind, hier Automarken und -modelle.
Künstliche Intelligenz ist sehr gut darin, sofort verwertbare Daten aus Fotos zu extrahieren. KI kann alle möglichen Dinge erkennen, besonders über Fußgänger. Bereits existierende KI-Systeme sind in der Lage festzustellen, ob eine Person auf einem Foto jung oder alt, männlich oder weiblich ist – sie können viele weitere Fakten ermitteln, die für Werbekampagnen nützlich sind.
Das heißt: Wir werden Werbung im Minority-Report-Stil bekommen, die Sujets austauscht, wenn Leute vorbeifahren oder -gehen. Das Targeting wird jedoch im laufenden Betrieb von KI realisiert, nicht auf Basis persönlicher Informationen aus einer Datenbank.
Die Personen, die diese Anzeigen sehen, wissen nicht unbedingt, dass die Werbetafeln für sie personalisiert sind. Mit anderen Worten: Real-World-Werbung wird wie die heutigen Online-Anzeigen funktionieren.
Die Personalisierung wird noch leistungsfähiger, und zwar wenn eine einzelne Werbetafel Hunderte von Sujets gleichzeitig für verschiedene Personen präsentieren kann – und niemand sonst sehen kann, was für Sie persönlich angezeigt wird.
Willkommen in der Welt der Multi-View-Displays
Wenn Sie heute durch einen Flughafen gehen, führen Dutzende oder sogar Hunderte von Schildern Sie zur Gepäckausgabe, zu Taxis, Toiletten, zum Zoll und mehr. Große Displays zeigen Ihnen alle ankommenden und abfliegenden Flugzeuge. Zu jedem Zeitpunkt können Sie jedoch nur einen kleinen Teil dieser Informationen verarbeiten.
In Zukunft wird es nur sehr wenige Anzeigen geben, und jede wird nur jene Informationen präsentieren, die für Sie wichtig sind. Anstatt alle Flüge anzuzeigen, präsentiert ein Bildschirm nur Ihren Flug. Nach dem Abflug werden die Schilder Sie vor allem zur Gepäckausgabe und zu den Toiletten leiten.
In den Bürogebäuden des Unternehmens zeigen Ihnen alle Bildschirme, die Sie sehen – von der Lobby bis zum Sitzungssaal und in jedem Büro auf dem Weg dorthin –, Ihre persönlichen Benachrichtigungen, Informationen und Daten. Jeder Computer im Büro wird Ihr eigener Computer sein. Und das ist möglich, egal wie viele Leute gleichzeitig auf einen Bildschirm schauen.
Die Technologie hierfür ist bereits in Entwicklung. Forscher an der Universität von North Carolina in Chapel Hill beschreiben ein System, das sie „korrektes Eye Gaze für mehrere Benutzer“ nennen.
Ein Startup namens Misapplied Sciences hat zudem eine Technologie entwickelt, die es als „parallele Realität“ bezeichnet. Sie soll es hunderten von Menschen ermöglichen, auf einen einzigen Bildschirm zu schauen, um völlig unterschiedliche, maßgeschneiderte Inhalte zu sehen. Ich könnte auf einen Bildschirm schauen und Informationen in Deutsch sehen, während die Person, die neben mir steht, die gleichen Informationen in Mandarin sieht und eine dritte Person in Französisch. Oder ich könnte meine Texte sehen und die anderen die ihren.
Misapplied Sciences, die von ehemaligen Microsoft-Mitarbeitern und Walt Disney Imagineers gegründet wurde, hat Bildschirme präsentiert, die verschiedene Lichtfarben senden – sie werden „Multi-View-Pixel“ genannt –, und das in einer riesigen Anzahl und möglicherweise sogar in Millionen von Richtungen.
Das Unternehmen sagt, dass es durch die Verwendung von Smartphone-ähnlichen Sensoren nicht nur jedem Passanten einen einzigartigen, individualisierten Bildschirm zeigen kann, sondern dass die angezeigte Information oder Werbung Personen „folgen“ kann, während diese sich von Bildschirm zu Bildschirm bewegen. All dies wäre privat in dem Sinne, dass im öffentlichen Raum niemand anderer den für Sie vorgesehenen Content sehen könnte.
Während Multi-View-Screen-Technologie entsteht, sind die anderen Technologien, die erforderlich sind, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, bereits etabliert. Cloud Computing ist heute allgegenwärtig, und es funktioniert.
Zweitens: biometrische Technologien wie Gesichtserkennung. Sie werden mit jedem Monat schneller und genauer. Künftige Smartphones werden die biometrische ID zur Authentifizierung als Standardtechnologie verwenden. Die einzige fehlende Technologie in dieser Rechnung ist die Display-Technologie, und die wird definitiv kommen.
Die Kombination dieser drei Trends wird zu einer Welt führen, in der jeder Bildschirm, den Sie sehen – auch im öffentlichen Raum –, personalisiert und individualisiert ist. Und im Gegensatz zur Augmented Reality müssen Sie keine spezielle Brille tragen.
*Mike Elgan ist Kolumnist des US-Magazins Computerworld.
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