Die Ukraine-Krise und die IKT-Branche

Millionen Menschen, die fliehen mussten, globale Fassungslosigkeit angesichts der Gewalt und des Leids: Die Auswirkungen des Krieges sind Legion. Folgender Artikel beleuchtet einen Seitenaspekt der Krise und zwar mit welchen Konsequenzen die IT-Branche konfrontiert ist. [...]

Rund jedes fünfte Digitalunternehmen hat Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Ukraine oder arbeitet dort mit Freelancern zusammen. (c) Adobe Stock
Rund jedes fünfte Digitalunternehmen hat Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Ukraine oder arbeitet dort mit Freelancern zusammen. (c) Adobe Stock

Jedes zweite deutsche Unternehmen geht davon aus, dass sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine negativ auf das eigene Geschäftsergebnis auswirken wird. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des deutschen Digitalverbands Bitkom von Anfang März, an der sich 100 Unternehmen der Digitalbranche beteiligt haben. „Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, geben aber ein aussagekräftiges erstes Stimmungsbild. Die deutsche Digitalbranche steht geschlossen an der Seite der Ukraine. Wir müssen gemeinsam das Mögliche tun, um das Töten und die Zerstörungen zu stoppen“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. „Die Ukraine ist mit ihren vielen jungen Tech-Unternehmen und engagierten IT-Spezialistinnen und -Spezialisten ein wichtiger Partner der deutschen Digitalwirtschaft.“ Rund jedes fünfte Digitalunternehmen hat Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Ukraine oder arbeitet dort mit Freelancern zusammen.

Bereits von den Sanktionen betroffen sind 13 Prozent der Unternehmen (Stand Anfang März), etwa durch den Verlust von Kunden, den Wegfall von Entwicklungspartnern, den Ausfall von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder aber einem Mangel an Roh- und Grundstoffen oder Bauteilen. Rund jedes achte Unternehmen befürchtet künftig Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rohstoffen oder Zwischenprodukten. Insgesamt gibt jedes dritte Unternehmen an, Geschäftsbeziehungen in die Ukraine, nach Russland oder Belarus zu unterhalten.

Die Hilfsbereitschaft gegenüber Ukraine ist auch in der IKT-Branche bemerkenswert. Beispiel Rittal: Unter Zusammenwirken des Rittal-Vertriebs, der Mitarbeiter von Rittal Polen, der Rittal Foundation und dem Bürgermeister der Stadt Haiger hat die Friedhelm Loh Group (FLG) 38 Menschen aus dem Kriegsgebiet in Sicherheit gebracht – Angehörige von insgesamt 16 ukrainischen FLG-Mitarbeiten. Ihre ehemalige Arbeitsstätte – Rittal Ukraine und das Softwarehaus Digital Technology Poland – sind aus Sicherheitsgründen geschlossen. Die Mitarbeiter selbst, alles Männer, mussten größtenteils in der Ukraine bleiben. Andere Unternehmen wiederum spenden Geld für Hilfsprojekte, wie der Münchner Enterprise-Cloud-Dienstleister Retarus mit 100.000 Euro. Das entspricht einer Summe von etwa 220 Euro pro Mitarbeiter.

Cyberkrieg – schon seit 2014

Was die Cybersecurity anbetrifft, so hat vor allem die Warnung des deutschen Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) vor dem Einsatz Virenschutzsoftware des russischen Herstellers Kaspersky Staub aufgewirbelt. „Antivirensoftware, einschließlich der damit verbundenen echtzeitfähigen Clouddienste, verfügt über weitreichende Systemberechtigungen und muss systembedingt (zumindest für Aktualisierungen) eine dauerhafte, verschlüsselte und nicht prüfbare Verbindung zu Servern des Herstellers unterhalten. Daher ist Vertrauen in die Zuverlässigkeit und den Eigenschutz eines Herstellers sowie seiner authentischen Handlungsfähigkeit entscheidend für den sicheren Einsatz solcher Systeme. Wenn Zweifel an der Zuverlässigkeit des Herstellers bestehen, birgt Virenschutzsoftware ein besonderes Risiko für eine zu schützende IT-Infrastruktur“, so die Warnung im Detail.

Wer davon ausgeht, dass der Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine das Startsignal für erhöhte Cyberangriffe war, irrt. ESET beobachtet schon seit 2014 immer wieder Attacken und Spionageaktionen auf Behörden, Unternehmen und Institutionen in dem osteuropäischen Land. Immer wieder gibt es Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen in der Ukraine. Zum Beispiel wurde Ende 2015 das Stromnetz in einer ukrainischen Region lahmgelegt, so dass rund 1,5 Millionen Menschen über Stunden keinen Strom hatten. „Die Ukraine ist seit vielen Jahren ein Hotspot für APT-Gruppen. Wir beobachten hier immer wieder gezielte Attacken auf kritische Infrastrukturen sowie Spionageangriffe auf Regierungsorganisationen oder Unternehmen“, sagt Thomas Uhlemann, ESET Security Specialist. „Seit 2014 haben diese Aktivitäten zugenommen. Zu nennen sind hier der gezielte Angriff auf die Stromversorgung oder auch ›Operation Groundbait‹ eine Cyberspionage-Kampagne. Auch in den nächsten Tagen und Monaten wird es höchstwahrscheinlich weitere Angriffe durch Hackergruppen geben.“

Es gibt auch Chancen

Die Ukraine-Krise hat auch Auswirkungen auf ein Thema, das heimische Unternehmen seit vielen Jahren beschäftigt: der IT-Fachkräftemangel. „Wir müssen jenen Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, in Österreich so rasch wie möglich eine Perspektive bieten. In Wien allein gibt es Bedarf für 6.000 IT-Fachkräfte“, erklärte vor kurzem Martin Puaschitz, Obmann der Fachgruppe für Unternehmensberatung, Buchhaltung und Informationstechnologie (UBIT) in der Bundeshauptstadt. Die Zahl der IT-Fachkräfte in der Ukraine lag zuletzt bei rund 200.000, es gab 36.000 Absolventen technischer Studien und 85 Prozent der Softwareentwickler sprechen fließend Englisch, wie aus Daten des auf die Ukraine spezialisierten internationalen Personaldienstleisters Daxx hervorgeht. Auf der anderen Seite: Laut einer Studie des Industriewissenschaftlichen Instituts (IWI) liegt der Fachkräftebedarf in ganz Österreich bereits bei rund 24.000 Personen. Der dadurch entstandene Wertschöpfungsverlust für den Wirtschaftsstandort wird mit satten 3,8 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. „Wir können den zu uns nach Österreich geflüchteten Menschen nicht nur Sicherheit bieten, sondern sie auch beruflich sehr gut unterstützen. Es wäre daher eine Win-Win-Situation für alle Seiten, insbesondere auch für Frauen aus der IT-Branche“, so Puaschitz.

transform! sprach mit dem UBIT Wien-Obmann über das mögliche Prozedere, wie IT-Fachkräfte integriert werden können und welche Unterstützung seitens UBIT Wien zu erwarten ist (Anmerkung: Das Interview fand noch vor der Präsentation der Jobplattform Austrian Jobs for Ukraine statt). „Im ersten Schritt sollten die vorhandenen Ausbildungen, IT-Fachkenntnisse und praktischen Erfahrungen der Menschen erhoben werden. Dafür ist das AMS sicher ein guter und kompetenter Ansprechpartner. Auf der anderen Seite evaluieren wir als UBIT Wien laufend die Bedürfnisse der IT-Dienstleister und stehen nicht nur in permanentem Kontakt mit den Unternehmen, sondern auch mit dem AMS“, sagt Puaschitz. Der Obmann weist darauf hin, dass UBIT unabhängig von der aktuellen Situation bereits im Dezember eine Studie durchführte, um zu erfahren, welche IT-Skills am Arbeitsmarkt derzeit besonders gefragt sind. „Der hohe Fachkräftebedarf ist in der IT-Branche schließlich schon länger ein Thema. Sobald das AMS die Screenings der Bewerberinnen und Bewerber abgeschlossen hat, müssen wir beide Seiten nur noch miteinander abgleichen und sprichwörtlich den passenden Deckel für den jeweiligen Topf finden.“ Für die Bewertung der Skills soll es unter anderem ein einheitliches Schema geben. „Dadurch wird eine möglichst hohe Übereinstimmungsrate zwischen dem Bedarf und den vorhandenen Kenntnissen erzielt. Wir dürfen auch nicht übersehen, dass die IT eine sehr schnelllebige Branche ist, bei der sich die Anforderungen permanent ändern. Daher dürfen solche Erhebungen keine einmalige Sache sein, wir müssen diese in Zukunft laufend wiederholen. Das betrifft sowohl die Anforderungen der Unternehmen, als auch die Skills der Bewerberinnen und Bewerber – und zwar nicht nur jener Menschen, die aus der Ukraine zu uns gekommen sind.“

Puaschitz zufolge werden auch berufsbegleitende Schulungsmaßnahmen notwendig sein. Dazu gehören nicht nur die fachliche Weiterbildung, sondern auch das Erwerben von Sprachkenntnissen. „In der IT-Branche kommt man zwar auch mit Englisch in der Regel gut über die Runden, aber Deutschkenntnisse vereinfachen nicht nur die Integration, sondern auch den Kundenkontakt. Zudem braucht es gesicherten und leistbaren Wohnraum.“

Der UBIT-Wien-Obmann verortet in der Ukraine „erstklassige Programmiererinnen und Programmierer, wobei in der Software-Entwicklung die Arbeitssprache Englisch ist. Daher sehe ich in diesem Bereich gute Chancen, sehr rasch Beschäftigung für die Menschen zu finden. Vor allem im Bereich PHP-Entwicklung, Java und JavaScript gibt es hohe Kompetenzen.“ Puaschitz sieht den Frauenanteil in der IT in der Ukraine im internationalen Vergleich als „ungewöhnlich hoch. Wobei aber schwer abzuschätzen ist, wie hoch der Anteil unter den geflüchteten Menschen ist. Das muss erst erhoben werden. Was wir in weiterer Folge aber noch brauchen werden: ausreichend Kinderbetreuungsplätze. Sehr wichtig sind aber auch familienfreundliche Arbeitsmodelle. In dieser Hinsicht bietet die IT-Branche ebenfalls gute Grundvoraussetzungen, denn in zahlreichen Betrieben gibt es bereits sehr liberale Home-Office-Regelungen.“

Austrian Jobs for Ukraine

Anfang April haben Unternehmen und Organisationen aus den Bereichen Technologie, Gastronomie und Soziales die oben erwähnte Plattform (www.austrianjobs-for-ukraine.at) vorgestellt. „Ziel ist es, den Vertriebenen so rasch wie möglich eine berufliche Beschäftigung zu bieten, um in Österreich ein gutes, möglichst selbständiges und gesellschaftlich integriertes Leben zu ermöglichen. Im Gegenzug sucht die österreichische Wirtschaft dringend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um am Wirtschaftsstandort Österreich konkurrenzfähig zu bleiben. Daher hat die Internetoffensive Österreich gemeinsam mit wesentlichen Partnern der Digitalwirtschaft, Vertretern der Spitzengastronomie und Hotellerie in Wien sowie den größten sozialen Hilfsorganisationen diesen Job-Schulterschluss für ukrainische Flüchtlinge geschaffen. Wir rechnen bis Jahresende mit bis zu 10.000 erfolgreich vermittelten hochwertigen und nachhaltigen Jobs“, so Gregor Schönstein, Leiter der Geschäftsstelle der Internetoffensive Österreich.

Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerks Österreich, ergänzt: „Wir müssen den Menschen, die aus der Ukraine nach Österreich kommen, ein gutes Ankommen ermöglichen. Sie stammen aus Kriegsgebieten, sind meist getrennt von Angehörigen, haben ihr altes Leben zurückgelassen, sind nicht selten traumatisiert. Viele von ihnen sind Frauen mit Kindern. Wir wissen heute noch nicht, wie viele von ihnen zurück in die Heimat wollen, wenn der Krieg vorbei ist. Aber es ist sicher, dass viele in Österreich eine neue Heimat finden werden – vorübergehend, für einige Jahre oder für immer.“ Jobs aus der Digitalwirtschaft seien für ukrainische Flüchtlinge in einigen Fällen besonders nachhaltig.

Kooperationspartner Alfred Harl, Obmann des WKO-Fachverbandes UBIT: „Manche Unternehmen bieten an, den Job auch nach einer eventuellen Rückkehr in die Ukraine zu behalten und weiterhin remote, also über eine Internetverbindung, tätig zu bleiben. Das weitverbreitete Homeworking der letzten zwei Jahre hat gezeigt, dass das in vielen Unternehmen gut funktioniert und man Flüchtlingen so auch langfristig gute Chancen bieten kann.“

Derzeit offen ist, wie hoch die Zuverdienstgrenze zur Grundversorgung sein soll. Da der Beschluss einstimmig sein muss und Kärnten sich querlegt, da man eine Anhebung dieser Grenze für alle Flüchtlinge verlangt, sind weitere Verhandlungen notwendig. Fix hingegen ist die von der Bundesregierung geschaffene adaptierte „Blue Card“-Arbeitsbewilligung. Ende März wurden bereits rund 10.000 Stück versandt.

Dieser Artikel ist in transform! 01/2022 erschienen.


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