Spätestens jetzt sollten IT-Services auf den Prüfstand kommen, die während der Corona-Pandemie überhastet eingeführt worden sind. [...]
Die Job-Training-Organisation Year Up hat sich der beruflichen Chancengleichheit und dem Schließen der Talentlücke verschrieben. Als die Pandemie ausbrach konnten sich Kandidaten und potenzielle Arbeitgeber nicht persönlich treffen. Daher bemühte sich die IT-Organisation, die Schulungs-, Anmelde- und Matching-Prozesse in einer virtuellen Welt abzubilden, um das Talentvermittlungsgeschäft am Laufen zu halten.
Dies gelang trotz der technischen Schulden, die sich im Laufe der Jahre aufgetürmt hatten. Die behinderten die Entwicklung und machten die Umstellung komplexer sowie zeitaufwändiger. „Wir waren in der Lage, flexibel zu reagieren, aber nicht so flexibel, wie wir es uns gewünscht hätten „, räumt Gary Flowers, CIO von Year Up, ein. „Wenn man technische Schulden hat und diese weiter anhäuft, verliert man die Fähigkeit, sich schnell an neue Situationen anzupassen.“
Mehr technische Schulden
Die Erfahrungen von Year Up in der Pandemie ist ein Beispiel dafür, wie schwer es für viele Unternehmen ist, flexibel zu sein, wenn sie mit technischen Schulden belastet sind während schnelles Handeln über Erfolg oder Misserfolg entscheiden kann. Das Problem „Technical Debt“ ist beileibe nicht neu. Aber es hat sich noch verschärft, nachdem zwei Jahre lang digitale Initiativen vorangetrieben wurden, um Fernarbeit und virtuelle Kundenerfahrungen zu ermöglichen, weil das normale Business wegen der Lockdowns stillstand.
Der „2022 Situation Report“ der Software AG besagt, dass 78 Prozent der Unternehmen im vergangenen Jahr mehr technische Schulden angehäuft haben. Knapp über die Hälfte der Befragten gab an, dass sie die Last der technischen Schulden in Kauf genommen haben, weil sie schnell handeln mussten. Nur 58 Prozent berichteten, dass sie über eine formelle Strategie verfügen, um mit technische Schulden umzugehen.
Technische Schulden kosten
Mit technischen Schulden nicht angemessen umgehen zu können, kostet viel Geld. Einem Bericht von OutSystems (PDF) zufolge verwenden Unternehmen mehr als ein Viertel (28 Prozent) des IT-Budgets, um technischer Schulden zu bewältigen. Lediglich ein Drittel ihrer Ressourcen setzten sie für Innovationen und den Aufbau neuer Funktionen ein.
In großen Unternehmen ist das Problem sogar noch akuter. Dort sind etwa 40 Prozent des IT-Budgets für Ausgaben im Zusammenhang mit technischen Schulden vorgesehen. Die technische Verschuldung bindet Personal- und Finanzressourcen und schränkt die Innovationsfähigkeit der Unternehmen erheblich ein. Das ist ein Trend, der von 69 Prozent der Befragten in der OutSystems-Umfrage genannt wurde und der sich letztlich in sechs von zehn Firmen negativ auf die Leistung auswirkt.
Die Pandemie war für viele Unternehmen ein Weckruf, Maßnahmen zu ergreifen, um die technischen Schulden in den Griff zu bekommen. Year Up hat seine Governance- und Budgetierungsprozesse im Zusammenhang mit neuen Technologieprojekten unter die Lupe genommen. Das Unternehmen arbeitet daran, die Abstimmung zwischen der IT und den Geschäftsbereichen in einem früheren Stadium des Prozesses zu fördern. Die Studie „State of the CIO 2022“ bestätigte eine ähnliche Verschiebung: Demnach konzentrieren sich viele der Befragten in diesem Jahr auf Governance und grundlegende Aktivitäten, die typischerweise damit verbunden sind, ein Tech-Unternehmen „in Ordnung“ zu bringen.
Frühjahrsputz in der IT
Gary Flowers, CIO von Year Up, kam ein Jahr nach Beginn der Pandemie an Bord. Er machte sich schnell daran, digitale Innovationen voranzutreiben und gleichzeitig einige technische Schulden abzubauen, die das Unternehmen bremsten. Das größte Problem war die Salesforce-CRM-Plattform, die für einen bestimmten sechsmonatigen Weiterbildungs- und sechsmonatigen Praktikumsweg fest programmiert war. Dies war während der Pandemie nicht zielführend, denn es hinderte das Team daran, flexiblere Optionen auszuloten.
„Das Sechs-plus-Sechs-Modell war ein Eckpfeiler, und diese technischen Schulden zu beseitigen war eine enorme Aufgabe“, sagt Flowers. Sobald es jedoch richtig aufgesetzt war, konnte die Fachabteilung zur IT kommen und andere Modell ausprobieren, die für Bewerber und potenzielle Arbeitgeber am besten funktionierten.
Flowers hat zudem die Prozesse für die Bewerberregistrierung und den Stellenabgleich modernisiert. Diese Systeme waren vor der Pandemie nicht standardisiert, was zu Schatten-IT führte, die auf Salesforce, Excel und sogar Box Notes basierte. Dadurch fehlte ein zentraler Überblick darüber, wie das Unternehmen Matching-Entscheidungen traf.
„Als wir das System bereinigt hatten, verfügten wir über zentralisierte Prozesse in der gesamten Organisation, die den Zeitaufwand für die Registrierung eines jungen Erwachsenen verringerten und es uns ermöglichten, konsolidierte Kontrollpunkte einzurichten“, erklärt er. Nach der Pandemie sei es ein Unterschied wie Tag und Nacht gewesen.
Abläufe ausmisten und automatisieren
Laut Douglas Davis, IT-Koordinator bei der Pizzakette Monical, hat sich das Unternehmen bereits vor der Pandemie gezielt darauf vorbereitet, technische Schulden abzubauen. In den Projekten ging es beispielsweise darum, die 63 Monical-Pizza-Filialen auf ein Standard-Web-Bestellsystem umzustellen und Fernsteuerungssoftware einzuführen.
So hat das Unternehmen laut Davis während der Corona-Pandemie schnell auf die Anforderungen reagieren und Lieferungen an die Haustür oder Remote Work für Büroangestellte umsetzen können. In Zukunft werde Monical Pizza viele der Prozesse, die während der Pandemie eingeführt wurden, wie etwa Fernarbeit, neu bewerten, ob sie auch in der Zeit nach der Pandemie noch Bestand haben.
Backend-Integration optimieren
Die Stadt Phoenix hat während der Pandemie im Eiltempo IT-Initiativen durchgeführt, um Fernarbeit zu ermöglichen, virtuelle öffentliche Versammlungen und andere allgemeine Dienste für die Bürger bereitzustellen. Nun bewertet sie die Initiativen aus Perspektive der technischen Verschuldung neu, berichtet Steen Hambric, CIO der städtischen IT-Dienstleisters.
So wurde beispielsweise die mobile App der Stadt, mit der die Einwohner unter anderem Rechnungen bezahlen, Wasserleitungen einschalten oder Obdachlosenlager melden können, schnell eingeführt, um kurzfristige Bedürfnisse zu erfüllen. Jetzt wird sie aber verfeinert. „Die App war zwar schnell einsatzbereit, aber sie hätte wahrscheinlich besser geplant werden können“, sagt Hambric. Das Front-End sehe gut aus, doch die Integration mit Back-Office-Systemen wie CRM oder anderen Anwendungen für Arbeitsaufträge müsse veredelt werden. „Der größte Teil unserer technischen Schulden ist mit diesem Projekt verbunden,“ resümiert er.
Fehler durch Zeitdruck
In ähnlicher Weise wurde auch eine Webex-Initiative zur Einrichtung virtueller öffentlicher Foren umgestaltet. Die Stadt-IT führte sie zügig ein, um den unmittelbaren Bedarf während der Pandemie zu decken. Die Fähigkeiten von Webex stießen auf Leistungsprobleme. Dies wurde behoben, indem eine dedizierte Leitung zu Cisco zusammen mit Video-Mesh-Funktionen hinzugefügt wurden.
„Time to market ist nicht das beste Ziel, wenn es auf Kosten der Qualität oder der Benutzerfreundlichkeit geht“, erklärt Hambric. Seit Team musste die Videokonferenz-Funktionen zur Unterstützung öffentlicher Meetings bereitstellen, hätte aber die Performance-Probleme erkannt, wenn es mehr Zeit für die Entwicklung einer End-to-End-Lösung gehabt hätte.
Lehren aus technischen Schulden
Während Unternehmen allmählich eine Bestandsaufnahme ihrer Pandemie-Initiativen machen, gibt es viele Möglichkeiten, wie sie ihre aktuellen und zukünftigen technischen Schulden bewältigen können. Der Nutzfahrzeughersteller Oshkosh etwa geht bei seinen Technologieinitiativen zweigleisig vor. Das Unternehmen überwacht die technischen Schulden laufend und verfolgt gleichzeitig Innovationen.
„Eine der Aufgaben der IT-Abteilung ist es, sicherzustellen, dass Betriebs- und Sicherheitsrisiken gemanagt werden, während die zweite Aufgabe darin besteht, Mehrwert zu schaffen – wir messen beiden Aufgaben die gleiche Bedeutung bei – parallel und nicht nacheinander“, sagt Anupam Khare, Global CIO und Digital Officer bei Oshkosh.
Vom Programm zum Produkt
Das US-Patentamt (USPTO) hatte kurz vor der Pandemie eine 40 Millionen Dollar teure Stabilisierungsmaßnahme zur Modernisierung von Netzwerken, Anwendungen und Infrastrukturen abgeschlossen. Daher war die IT-Basis trotz einiger Anpassungen solide, berichtet CIO Jamie Holcombe.
Ein entscheidender Faktor, um technische Schulden zu minimieren, sei das Program-Management-Büro gewesen. Es habe die IT-Organisation von der Orchestrierung von IT-Initiativen hin zu einem Produktentwicklungsansatz verlagern. Durch diesen Schritt erhalten die Fachbereiche mehr Verantwortung und Rechenschaftspflicht für die technologischen Ergebnisse. Jeder Stakeholder ist damit eng an seine Initiativen angebunden.
„Während Sicherheit und Stabilität früher immer ein IT-Problem waren, ist es jetzt das Problem aller Beteiligten“, sagt Holcombe. Die Art und Weise, wie das Team die jüngste Log4j-Sicherheitslücke in weniger als zwölf Stunden behoben hat, sei ein Beispiel dafür, wie eine bessere Abstimmung zwischen IT und Business dazu beitragen kann, die Lücken zu schließen. „Wenn Fachabteilungen nicht einsehen, dass ein Upgrade notwendig für die Sicherheit und Stabilität ist, kämpfen wir auf verlorenem Posten“, sagt er.
Risiken technischer Schulden verstehen
Agile Entwicklungspraktiken, organisierte Governance-Prozesse sowie Metriken sind ebenfalls wichtige Instrumente, um die technischen Schulden in Schach zu halten. Laut Year up-CIO Flowers gibt es Bereiche am Rande des Unternehmens, in denen man es sich leisten kann, technische Schulden zu tolerieren, während sie in anderen Fällen ein zu großes Risiko für das Unternehmen darstellen. „Es geht nur darum, sie zu verwalten und zu verstehen,“ sagt er
Viele Stellschrauben und Aufgaben
ChenMed, ein Unternehmen, das Primärversorgungszentren für Senioren betreibt, ist derzeit dabei, sein IT-Projektportfolio aus der Covid-19-Ära zu sichten. Es soll festgestellt werden, was bleibt, was geht und was überarbeitet werden muss, so CTO und Chief Product Officer Steven May. Während die meisten Funktionen für die Mitarbeitererfahrung und Collaboration ins Schwarze trafen, wurden Kompromisse eingegangen, um die ambitionierten Liefertermine einzuhalten. Die Defizite gilt es nun neu zu gestaltet oder fein abzustimmen.
Die hauseigene Telemedizin-Plattform wird ebenfalls modifiziert, da die Skalierung der Videofunktion für die langfristige Zufriedenheit von Patienten und Ärzten May zufolge nicht ausreicht. Die IT-Organisation sei dabei, Teile der Telemedizinfunktionen zu überarbeiten und auf eine neue Plattform zu stellen. Sie soll einen moderneren Microservices-Ansatz verfolgen und so in Zukunft flexibler sein.
„Wir haben Dinge gebaut, die strategisch eng gekoppelt waren und nicht auf eine moderne, flexible Art und Weise durchgeführt wurden, was die Möglichkeiten zur Erweiterung von Merkmalen und Funktionen eingeschränkt hat“, erklärt May. Jetzt gehe sein Team und justiere neu, indem es die normalen Architekturpraktiken und -standards anwendet.
Mays IT-Organisation stellt auch Projekte zurück, um mit der technischen Verschuldung Schritt zu halten. So ist ein System zur Verfolgung von Impfstoffen für die Mitarbeiter beispielsweise zur Ausmusterung vorgesehen. ChenMed widmet 15 bis 20 Prozent seiner IT-Kapazitäten und -Ressourcen, um technische Schulden zu managen.
Da diese nie vollständig getilgt werden können, plädiert May für einen disziplinierten Ansatz, bei dem die Governance direkt in die IT-Prozesse integriert wird. „Wir konnten im Rahmen der Pandemie nicht viel tun, weil die Anfragen so schnell kamen, aber jetzt haben wir einen bestimmten Prozentsatz unserer Zeit dafür reserviert, um die Verwaltung technischer Schulden in den Prozess zu integrieren“, erklärt er. Man müsse sich voll auf Tech Debt konzentrieren, weil das Problem nur schlimmer werde und irgendwann der Geschwindigkeit des Geschäfts im Weg stehe. (af/jd)
Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation CIO.com.
*Beth Stackpole ist eine erfahrene Reporterin, die seit mehr als 20 Jahren über das Zusammenspiel von Wirtschafts- und Technologiethemen berichtet.
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