Low-Code & No-Code: Weniger Code, mehr Autonomie?

Low- und No-Code-Anwendungen bieten entscheidende Vorteile für die Entlastung der IT. Doch Experten warnen davor, zu viel in die Fachabteilungen auszulagern. [...]

In der Digitalisierungsdebatte bekommt das Thema Low-Code bzw. No-Code einen immer größeren Stellenwert (c) pixabay.com

Die Digitalisierungsdebatte wird in Deutschland stets von einem hartnäckigen, weil bildhaften Vorwurf begleitet: Ausgerechnet das Land der Ingenieure und Autobauer tue sich schwer bei der digitalen Transformation seiner Wirtschaft. Besonders sichtbar wird dieses (vermeintliche) Paradoxon, wenn man sich den Stand der Verbreitung von Low-Code– und No-Code-Anwendungen ansieht. Diese Anwendungen können im Unternehmen nach einer Art Baukastenprinzip vollständig ohne oder mit nur wenig Programmieraufwand entwickelt werden. Bei No-Code-Ansätzen findet diese Entwicklung sogar komplett im Frontend und unter Auswahl bestimmter vorgefertigter Module statt.

Gegenüber aufwendiger und komplexer Individualsoftware eignen sich Low-Code– und No-Code-Ansätze sogar besser, um der wachsenden internen Nachfrage nach schneller bereitgestellten, agilen Lösungen und Services zu entsprechen. Traditionelle „Pro-Code“-Entwicklung stößt in solchen Szenarien immer öfter an ihre Grenzen. Low-Code und No-Code eignen sich also wunderbar als Ergänzung, um die Entwicklungsgeschwindigkeit und die Flexibilität zu erhöhen. Diskutiert wird dabei – auch im Rahmen des IDG-Round-Table „Low-Code/No-Code“ – immer wieder die Frage, wie hoch dabei dessen Anteil innerhalb der Unternehmens-IT sein soll und ob sich neben kleinen und mittelgroßen auch unternehmensweite Anwendungen mit Low-Code und No-Code umsetzen lassen.

Viele Entwickler wollen „jede Kurve ausfahren“

Um die im internationalen Vergleich immer noch sehr geringe Adaption hierzulande zu erklären, greifen die Experten ihrerseits auf Automobil-Metaphern zurück: So sieht Bernhard Kube, der bei der Lufthansa die Business Unit Technology Consulting leitet, bei vielen Unternehmen den Wunsch, auch bei der Softwareentwicklung „jede Kurve komplett auszufahren“. Dabei bedeute Low-Code schon per Definition immer auch, sich mit Restriktionen abzufinden, die Low-Code-Tools mit sich bringen. „Das heißt nicht, dass nicht auch tolle Applikationen möglich sind, trotzdem muss man auf manche Freiheiten, beispielsweise in der Gestaltung der Benutzerschnittstelle, verzichten“, so Kube.

Laut der Round-Table-Diskutanten gehe es allerdings nicht darum, bewährte Tugenden für ein bisschen mehr Agilität gänzlich über Bord zu werfen. Etwas mehr Offenheit würde schon helfen, um mehr an den Chancen des Marktes zu partizipieren. Diese sind – ganz entgegen des Ingenieur-Klischees – auch durchaus vorhanden, wie Christopher Heid von GAPTEQ feststellt: „Ich habe noch mit keinem Interessenten gesprochen, der nicht bereit gewesen wäre, zugunsten der Usability auch auf Features zu verzichten. Wenn die Lösung 80 bis 90 Prozent des Bedarfs erfüllt, ist schon mal ein großes Ziel erreicht.“ Unternehmen sollten allerdings darauf achten, schon bei der Implementierung an die Weiterentwicklung zu denken. „Wenn sich im weiteren Verlauf zusätzliche Anforderungen ergeben, sollte die Low-Code-Plattform entsprechende Zugriffsmöglichkeiten anbieten, um individuelle Software mittels API-Schnittstelle oder einem Datenbankzugriff anzubinden.“

Weniger Code bringt mehr Vielfalt

Die Anbieter stünden dabei in der Verantwortung, diese Flexibilität zu gewährleisten, etwa in Form offener und gut dokumentierter Schnittstellen. Low-Code– und No-Code-Anwendungen können nur im Gesamtsystem Fuß fassen, wenn sie dem allgemeinen Trend zur Heterogenität nicht nur entsprechen, sondern ihn idealerweise auch noch befördern. Das IT-Beschaffungswesen gleicht schließlich immer mehr einer komplexen Kette an Dienstleistern und „Zulieferern“, die an die Stelle komplexer Individuallösungen treten.

Eine folgerichtige Entwicklung, wie Carlo Pacifico von Outsystems findet: „Ein Auto kaufe ich selten wegen seiner tollen Einspritzpumpe, sondern weil das Gesamtpaket passt. Unternehmen müssen also aufhören zu denken, dass sie zu jeder Zeit immer alles selbst entwickeln müssen, geschweige denn können. Die Zukunft wird viel zu volatil, die Supply Chains viel zu komplex, als dass man dafür die Zeit oder die Ressourcen hätte.“ Anbieter und Berater sollten im Dialog mit den Unternehmen darauf hinweisen und die Notwendigkeit zur Öffnung klar benennen. Nur weil man als IT-Leiter hin und wieder eine Lösung zukaufe, sei man schließlich kein schlechter Entwickler, so Pacifico weiter.

In jedem Fall lohne es sich, über den eigenen Entwicklerschatten zu springen, mehr auf Low– und No-Code zu setzen und den Trend nicht zu verschlafen: Laut Gartner werden in 2025 rund 70 Prozent der von Unternehmen entwickelten neuen Anwendungen Low-Code- oder No-Code-Technologien verwenden. Ein rasantes Wachstum, vor allem wenn man bedenkt, dass es 2020 noch weniger als 25 Prozent waren. „Wenn wir alleine die Hälfte dieser Prognose erreichen, dann ist das schon ein Erfolg“, betont Pacifico. „Doch damit sich solche Strukturen tatsächlich herausbilden, brauchen wir schon heute einen gewissen ‚Muskelaufbau‘ in Form von IT-Fähigkeiten in den Unternehmen.“

Studie „Low-Code No-Code 2022“: Sie können sich noch beteiligen!
Zum Thema Low-Code No-Code führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Entscheidern durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, hilft Ihnen Frau Regina Hermann (rhermann@idgbusiness.de, Telefon: 089 36086 384) gerne weiter. Informationen zur Low-Code-No-Code-Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF).

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Die gesamte Muskulatur trainieren

Doch damit die Muskulatur möglichst nachhaltig wächst, ist es wichtig, dass – um bei der Analogie zu bleiben – der gesamte Körper trainiert wird und die verschiedenen Muskelgruppen im Unternehmen möglichst miteinander harmonieren. Prestigeprojekte, die als gigantische Inseln in ihren Fachabteilungen entstehen, die Gesamtunternehmung aber kaum weiterbringen, sind aus Sicht der Experten mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt. „No-Code und Low-Code kommen sehr gut in den Fachbereichen an, oft aber zum Leidwesen des IT-Leiters, weil dadurch schnell Inseln entstehen, die nicht professionell betrieben werden“, betont Lufthansa-Manager Kube.

Solche Prestigeprojekte ziehen zwar sicher – wie ein ausgeprägter Bizeps – manche Blicke auf sich und taugen zeitlich begrenzt auch zu Marketingzwecken, doch zur „Fitness“ des gesamten Unternehmens tragen sie kaum bei. Damit aber genau das gelingt, sollte die IT-Abteilung ihrerseits eine neue Rolle erhalten: Nicht als bereitstellende Instanz, die komplexe Individuallösungen zentral entwickelt und vor Ort ausrollt, sondern harmonisierend zwischen den Abteilungen, die ihrerseits ihre eigenen Lösungen auf Low-Code-Basis entwickeln.

„Aus meiner Sicht müssen wir es schaffen, dass die IT die Governance auch über solche Anwendungen übernimmt und deren Kombinierbarkeit mit allen anderen übrigen Anwendungen gewährleistet“, so Kube. Und Sven Lüttgens vom ERP-Anbieter Brixxbox ergänzt: „Ich denke, dass es vor allem darauf ankommt, bei einer klaren Linie zu bleiben und keinen Wildwuchs an Lösungen entstehen zu lassen.“

Unternehmen sollten ihre Hausaufgaben machen

Auch für Ammar Jamal vom Consulter BearingPoint ist die organisatorische Einbettung ein zentraler Erfolgsfaktor für die Einführung von Low– und No-Code-Plattformen. Denn diese wird oft von dem Versprechen begleitet, dass die Unternehmen damit alles selber machen können: „Das wird aber nur so sein, wenn die Unternehmen ihre Hausaufgaben machen. Die organisatorische Verankerung der Entwicklungsplattform ist essenziell, um auch langfristig von den Investitionen profitieren zu können.“

Damit die IT diese Rolle allerdings wahrnehmen kann, muss sie auch technologieoffener und lösungsorientierter an das Thema herantreten können. Vor allem beim Datenschutz werde oft noch immer mit zweierlei Maß gemessen, wie Christopher Heid feststellt: „Wenn Sie eine Anwendung in Excel oder Access bauen, dann fragt keiner nach der Kritikalität der Daten. Wenn wir dann als Anbieter reingehen und eine Low-Code-Plattform vorlegen, die aus dieser Perspektive viel mehr Sicherheit bietet, dann kommt plötzlich die IT-Abteilung mit einem riesigen Katalog an Anforderungen, die für eine Excel-Tabelle nie gegolten hätten. Diese Diskrepanzen müssen Unternehmen abbauen, wenn sie den nötigen Wandel innerhalb ihrer IT-Organisation erreichen wollen.“

Communities fördern heißt Low-Code fördern

Doch neben den Abbau von Hürden sollte unbedingt auch der Aufbau bestimmter Strukturen in den Fokus rücken. Denn damit die IT-affinen Leute, die überall im Unternehmen zu finden sind, ihr Potenzial auch nutzen können, müssen sie ihr Wissen untereinander austauschen und weitergeben können. „Wenn ich Low-Code-Plattformen erfolgreich einsetzen möchte, sollte ich intern darum herum eine Community aufbauen“, empfiehlt Heid. „Ich kann Unternehmen nur empfehlen: Macht einmal in der Woche einen Low-Code-Townhall mit IT-Abteilung und Fachbereichen, dann löst ihr ad hoc viele potenzielle Probleme.“

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*Florian Stocker ist Inhaber der Kommunikationsagentur „Medienstürmer“.


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