Quanten-Computing steht kurz vor dem Durchbruch. Lesen Sie, wie IBM und deutsche Unternehmen den Quantencomputer mit neuer Hard- und Software für den Enterprise-Einsatz fit machen wollen. [...]
Das Quanten-Computing hat das Stadium der Industrialisierung erreicht, so beschreibt das Quantum Technology and Application Consortium (QUTAC) den Stand der Quantencomputer-Entwicklung. Das im Juni 2021 gegründete Konsortium hat es sich zum Ziel gesetzt, Quanten-Computing in nutzbare industrielle Anwendungen weiterzuentwickeln. Gründungsmitglieder sind die zehn deutschen Konzerne BASF, BMW Group, Boehringer Ingelheim, Bosch, Infineon, Merck, Munich Re, SAP, Siemens und Volkswagen.
Dass Quanten-Computing nicht länger nur ein akademisches und wissenschaftliches Thema ist, zeigt auch ein anderes Beispiel. IBM hat mittlerweile eine Roadmap für die Weiterentwicklung der Quanten-CPUs präsentiert und arbeitet mit 13 Industriepartnern an Anwendungen für den Enterprise-Einsatz. Partner sind dabei etwa BP, Boeing, Exxon Mobil, Daimler, JP Morgan Chase oder Paypal.
So überlegt Daimler etwa, Quanten-Computing für die Erforschung neuer Batteriezellen für die E-Mobilität einzusetzen. Mit Hilfe von Quantensimulationen will man die internen chemischen Prozesse einer Batteriezelle besser verstehen und so zu leistungsfähigeren Akkus kommen. Ein weiteres Feld für die Quantencomputer sieht Daimler grundsätzlich im Bereich der Materialforschung. Des Weiteren ist angedacht, mit Hilfe des Quanten-Computings die Prozesse und Workflows in der Produktion zu verbessern. Zu Optimierungszwecken will auch ExxonMobil auf die Rechenleistung der Quantencomputer zurückgreifen. Der Konzern mit dem weltweit viertgrößten CO2-Ausstoß will so die Schiffsrouten seiner Tanker optimieren, um Zeit und Treibstoff zu sparen. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse in Sachen Programmierung könnten später beispielsweise auch zur Optimierung des Autoverkehrs genutzt werden.
Quanten-Computing: Use Cases und Problemdomänen
Blickt man allgemein auf die Anwendungen, so unterteilt Heike Riel, IBM Fellow und Head of Science & Technology sowie Lead of IBM Research Quantum Europe bei IBM Research Zürich, diese in drei Domains:
- Simulation,
- Artificial Intelligence (AI/KI) sowie
- Optimierung/Analyse.
Im Bereich Simulation sieht Riel über die Batterie- und Materialforschung hinausgehend noch eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten, etwa bei der Erforschung neuer Arzneimittel oder der Vorhersage von Krankheiten. Ebenso könnte das Verhalten von Proteinstrukturen vorhergesagt werden. Weitere Anwendungen im Umfeld der Quantensimulation könnte die Simulation von potenziellen Produktionsfehlern oder das Design neuer Chemieprodukte sein.
Im Zusammenspiel mit Künstlicher Intelligenz wird das Quanten-Computing vor allem für die Finanzindustrie interessant. Mögliche Anwendungsszenarien umfassen die Betrugserkennung, Risikoanalysen, die Preisfindung im Options- und Derivate-Handel, das Portfolio-Management oder das Kredit – und Asset-Scoring. Mit KI-Unterstützung ist auch vorstellbar, dass mit Hilfe von Quanten-Computing künftig Produktempfehlungen oder die Flugpläne einer Fluggesellschaft erarbeitet werden.
In den Bereich Optimierung/Analyse fallen zunächst einmal klassische Optimierungsaufgaben wie Netz-, Produktions-, Portfoliooptimierung. Andere Anwendungen wären etwa die Prozessplanung, die Qualitätskontrolle, die Supply Chain oder die Frage nach der optimalen Lieferung von Rohstoffen, eine Herausforderung, die – wie Corona gezeigt hat – nicht zu unterschätzen ist. Daran anschließend ist natürlich der ganze Transport-/Logistik-Bereich ebenfalls ein interessantes Tätigkeitsfeld, beginnend beim Routing bis hin zur Vorhersage von Frachtaufkommen.
Diese Domänen sieht man auch bei QUTAC, ergänzt um Kryptografie. Das Konsortium orientiert sich zur Einordnung der Quanten-Apps aber noch an einem anderen Kriterium: Die zugrundliegenden mathematischen Probleme, die sich mit Hilfe der Quantencomputer besser lösen lassen. Dabei definiert das Konsortium vier Problemgruppen:
- das Travelling-Salesman-Problem (TSP),
- das Rucksack-Problem,
- Satisfiability (SAT) sowie
- Sequencing.
Mögliche Use Cases im Zusammenhang mit TSP sind etwa:
- das Routing von Fahrzeugen (VW),
- die Planung des Robotereinsatzes in der Produktion (BMW),
- das Flottenmanagement (BASF) sowie
- die Transportversicherung (Münchener Re).
Mit Blick auf das Rucksack-Problem führt QUTAC folgende Anwendungsbeispiele auf:
- die Bedarf-Kapazitäts-Ermittlung (Infineon),
- die Optimierung der Supply Chain (Infineon),
- die LKW-Beladung (SAP) sowie
- die Losgrößenbestimmung (SAP).
Das Erfüllbarkeitsproblem (Satisfiability) soll in Anwendungsfällen wie Software-Testing (Bosch) oder das Testen von Fahrzeug-Features (BMW) mit Hilfe von Quantencomputern gelöst werden.
Darüber hinaus hat das Konsortium mit seinen Mitgliedern und Airbus 23 Anwendungsfälle (siehe Abb. 1) für das Quanten-Computing herausgearbeitet, die typische IT-Anwendungsbeispiele in der deutschen Industrie widerspiegeln. Gleichzeitig wurden dabei die Auswirkungen des Quanten-Computing auf das Business analysiert sowie untersucht, welche Quantentechnologien noch fehlen. Rund 30 Prozent der untersuchten Use Cases sollen dabei einen direkten, disruptiven Einfluss auf das Geschäft der Unternehmen haben, etwa im Prozessbereich, den Services oder den Produkten selbst. Das Gros der untersuchten Quanten-Anwendungsfälle wird QUTAC zufolge mittlere Auswirkungen auf das Business haben.
Lediglich bei einem Anwendungsfall, dem Einsatz von Quantencomputern für die Identifizierung und das Monitoring von Parametern für die Kontrolle der Ausbreitung von Krankheiten, komme es zu fast keinen Auswirkungen auf das Geschäft. Wobei das Problem nach Darstellung des Pharmakonzerns Merck weniger im Quanten-Computing liege, sondern eher an fehlenden Daten.
Quanten-Apps: Der Reifegrad
Betrachtet man die Zeit bis zur Einsatzreife der 23 Anwendungen, dann sollen 15 Prozent bereits in den nächsten fünf Jahren in den Unternehmen verwendet werden. Insgesamt geht QUTAC davon aus, dass etwa 65 Prozent der untersuchten Use Cases bereits in spätestens fünf bis zehn Jahren realisiert werden. Anwendungen, die kurz vor dem industriellen Einsatz stehen, sind etwa Quantum Inspired Imaging Techniques. Daran arbeitet unter anderem Boehringer Ingelheim, um Strukturen und die Verteilung von Molekülen im Gewebe genauer zu identifizieren.
Gleich zwei einsatzreife Anwendungsfälle für Quantenrechner sieht man bei der Munich RE: Mit Techniken der Quantum-Secure-Encryption könnten IoT-Hersteller ihre Devices besser absichern – auch für das Zeitalter der Post-Quantum-Encryption. Gleichzeitig seien Versicherer mit Hilfe der Quantenrechner in der Lage, Versicherungspolicen zu Absicherung von Encryption-Schwachstellen anzubieten. Ein anderes Beispiel sind für den Münchner Rückversicherer Transportversicherungen für zeitkritische Fracht. So könnte ein Versicherer etwa Ad-Hoc-Performance-Garantien offerieren und die Transportunternehmen per Quantum-Computing bei Finden der optimalen Fahrtroute und dem Verringern des CO²-Fußabdrucks unterstützen. Ein baldiges Feld für den Einsatz von Quantenrechnern sieht Siemens etwa in der Matrix-Produktion. Mit Quantentechnologie soll eine Shopfloor-Optimierung in Echtzeit erfolgen. Auf diese Weise solle sich dann eine hoch kundenspezifische, fehlertolerante Produktion mit der Losgröße Eins realisieren lassen.
Vor dem Hintergrund dieser Use Cases im industriellen Maßstab appelliert QUTAC an die Unternehmen, schneller zu handeln und zu investieren als beim Thema Künstliche Intelligenz, wenn man sich in der schnelllebigen digitalen Wirtschaft einen Wettbewerbsvorteil verschaffen wolle.
*Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN).
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