Wir sind süchtig nach E-Mails

Studien und Selbstversuche bestätigen einen ernüchternden Trend: Mit E-Mails läuft die Kommunikation schlecht, ohne E-Mails aber einfach gar nicht. [...]

Quelle: pixabay.com

„E-Mail: Wir kriegen einfach nicht genug davon“, so lautet der Titel einer Untersuchung von Adobe. Der Dokumentenmanagement-Anbieter befragte 400 Angestellte über 18 aus den USA über ihren Umgang mit elektronischer Post. Ergebnis: Die E-Mail durchdringt wie eine Sucht absolut alle Lebensbereiche. Die Befragten nutzen diese Art der Kommunikation nicht nur etwa sechs Stunden täglich im Büro, sondern sie checken den Posteingang auch daheim vor dem Fernseher, im Bett, im Badezimmer und am Steuer ihres Autos. Haviest Users sind die sogenannten Millenials, also Menschen um die 30.

Die meisten wissen um ihre E-Mail-Sucht

Bemerkenswert ist, dass sich die Allermeisten über ihr Suchtverhalten im Klaren sind. Vierzig Prozent der Befragten haben schon einmal aktiv versucht, von der Droge herunterzukommen, indem sie sich selbst für einen oder mehrere Tage E-Mail-Abstinenz verordneten.

Einerseits ist die Botschaft der Studie („Ohne Mails können wir einfach nicht“) wenig überraschend: Mit Adobe-Software hergestellte Dateien (wie Bilder oder PDFs) werden besonders gerne und häufig als Anhang versendet, das Unternehmen hat viel Zeit und Geld in Technologien investiert, mit denen sich solche Anhänge verschlüsseln oder anderweitig schützen lassen. An einem Ende der E-Mail-kommunikation dürfte Adobe folglich wenig Interesse haben.

Jeder kennt die Nachteile der E-Mail

Dass wir von diesem Ende noch ziemlich weit entfernt sind, dieser Eindruck drängt sich allerdings nicht nur beim Betrachten von Unternehmen auf, die wirtschaftlich vom Überleben der elektronischen Post profitieren.

Der französische IT-Dienstleister Atos SE zum Bespiel verkündete bereits im Jahr 2011 unter großem PR-Geklingel seine Initiative „Zero E-Mail“ und machte dabei viele spannende Erfahrungen. Ganz verschwunden sind die Mails aus den Atos-Büros bis heute nicht, über die Gründe wird noch zu reden sein.

Jeder, der in einem Unternehmen mit mehr als zwei Mitarbeitern sitzt und E-Mails versendet, kennt die Nachteile dieser Art von Kommunikation: Es gibt kein direktes Feedback wie in der Teeküche auf das Vorgeschlagene, man kann nicht die Stimmung ausloten oder mal schnell ein Meinungsbild einholen.

Wer schon mal versucht hat, via E-Mail mit – sagen wir mal – acht Leuten einen gemeinsamen Termin abzustimmen, weiß, wie schlecht sich diese Technik dazu eignet. In ihrer Nutzerlogik ähnelt elektronische Post am meisten der guten alten Snail-Mail – nur dass kein Papier und kein Porto vonnöten sind.

Push-Technologie und One-to-one-Kommunikation

Beide sind reine Push-Technologien, will sagen der Empfänger muss sich die in Rede stehenden Informationen nicht zusammenklauben, sondern guckt lediglich in seinen Briefkasten, dann ist er im Bilde.

Zweitens handelt es sich dabei um eine One-to-one-Kommunikation. Natürlich kann man auch eine Mail an viele Empfänger versenden – was dann One-to-many wäre. In jedem Fall aber ist ein begrenzter und genau definierter Empfängerkreis gemeint.

Und dieses Gemeintsein spielt vor allem für den Empfänger eine große Rolle: Wer eine Mail bekommt, fühlt sich angesprochen, daher rührt auch der hohe Nervfaktor von Spam. Einfach mal 300 Mails ungesehen weghauen, das tun die wenigsten; könnte ja doch irgendwas Relevantes darunter sein. Ebenfalls wegen des Gemeintseins eignet sich E-Mail so schlecht als Schwarzes Brett, als Ankündigung von Dingen, die die Leute lesen können, wenn sie zufällig daran vorbeikommen – oder eben nicht.

Diese beiden größten Nachteile der E-Mail – Push-Technologie und One-to-one-Logik – sind paradoxerweise zugleich ihre größten Trümpfe und wichtige Gründe für die ungebrochene Lebenskraft.

Digital Natives als Botschafter

Denn die Begeisterung für jede Art von Pull-Technologien, also von Netzwerken, auf denen ich mich einlogge und mir dann an verschiedenen Stellen gewünschte oder erforderliche Infos zusammensuche, hält sich in gewissen Grenzen.

Beziehungsweise E-Mailen ist so gut gelernt und so beliebt, dass es viel Kraft kostet, die Menschen davon abzubringen. Diese Erfahrung machte zum Beispiel Atos SE bei seinem bereits erwähnten Projekt „Zero E-Mail“.

Vielen Kollegen war das Suchen in einem ESN (Enterprise Social Network) lange zu anstrengend und zu ungewohnt. Atos machte Digital Natives zu Botschaftern des Neuen, sie brachten anderen Kollegen den Kulturwandel und seine Techniken nahe.

Gespräche am virtuellen Wasserkühler

Wobei an den Vorteilen von Netzwerken niemand zweifelt. Und auch nicht daran, dass die ideale Art der Kommunikation eigentlich das Gespräch in der Teeküche und am Wasserkühler ist.

Weil sich dies aber nur live und nicht zeitversetzt, also nicht wenn man gerade mal Zeit hat, führen lässt und außerdem nicht mit mehr als fünf oder sechs Leuten, hat sich Atos eine digitale Analogie dazu einfallen lassen: Eine der größten und ältesten Communities des Unternehmens heißt schlicht „Water Cooler“.

Eine Hoffnung, die sich mit mehr Kommunikation über ESNs statt über Mails auch verbindet, ist, dass das eingangs beschriebene Suchtverhalten ab- und die Effizienz der Arbeit zunimmt.

Denn das ständige Checken, Schreiben und Antworten bewirkt das Gegenteil, wie eine Studie der University of California aus Irvine festgestellt hat. Die Forscher hatten 13 IT-Mitarbeitern eines Unternehmens für fünf Tage quasi den Stecker ihrer Mailaccounts gezogen.

E-Mails machen die Arbeit ineffizient

Ergebnis: Ohne Mails versuchen sich die Menschen generell weniger an Multitasking, springen nicht so oft zwischen den Fenstern auf ihrem PC-Bildschirm hin und her und konzentrieren sich für längere Zeit auf eine (einzige) Aufgabe. Außerdem sprachen die Probanden öfter persönlich mit ihren Kollegen.

Dennoch fühlten sich die meisten von ihnen irgendwie abgeschnitten vom Informationsfluss. Womit wir wieder beim Anfang wären: Ohne E-Mails scheint uns tatsächlich was zu fehlen.

Das gilt trotz Schulungsmaßnahmen auch für einige Teilnehmer von Atos‘ „Zero-E-Mail“-Projekt. Das Unternehmen versendet deshalb noch immer gelegentlich E-Mails, um Mitarbeiter auf interessante Postings im Intranet hinzuweisen – eine einigermaßen paradoxe Situation.

Dass die E-Mail überleben wird, hat neben der lieben Gewohnheit übrigens auch rechtliche Gründe: Informationen, die ein Arbeitgeber nachweislich an alle Mitarbeiter kommunizieren muss, müssen nach wie vor in allen Unternehmen per E-Mail versandt werden.

*Christoph Lixenfeld, seit 25 Jahren Journalist und Autor, vorher hat er Publizistik, Romanistik, Politikwissenschaft und Geschichte studiert.


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