Wacker Chemie optimiert Prozesse durch künstliche Intelligenz. CIO Dirk Ramhorst erklärt, warum die Datenstrategie dabei die zentrale Rolle spielt. [...]
„Daten stehen von Anfang an im Mittelpunkt all unserer Betrachtungen rund um künstliche Intelligenz,“ sagt Dirk Ramhorst, CIO und CDO von Wacker Chemie. Das Team um den IT-Chef startete die KI-Initiative des Unternehmens vor rund dreieinhalb Jahren. Ziel war es, das Kerngeschäft zu digitalisieren.
„Wir haben uns gefragt, wie wir Daten, die wir haben, besser verstehen und herausfinden können, welche wir noch brauchen,“ beschreibt Ramhorst den Ansatz seiner Datenstrategie. Davon ausgehend sollten Use Cases für KI identifiziert werden.
Die Prozesse im Operations-Bereich seien besonders datenintensiv und komplex, so der CIO. In weitgehend automatisierten Produktionsprozessen fielen Millionen von Datenpunkten pro Sekunde an. Daher habe es sich angeboten, dort erste Gehversuche mit künstlicher Intelligenz zu unternehmen.
Von den Daten zum Use Case
Ramhorst entschied sich für einen kritischen Produktionsprozess. „Dort entscheiden etwa 14.000 Parameter über die Menge und Qualität des Produkts.“ Dabei spielten Wetterdaten, Luftdruckveränderungen oder bestimmte Bauteile der Anlage eine Rolle. Damit seien klassische Datenauswertungsverfahren schnell am Ende ihrer Möglichkeiten.
Über einen KI-Algorithmus konnte das Team in kurzer Zeit Abhängigkeiten zu bestimmten Aufbaufaktoren in den Produktionsanlagen nachweisen, an denen viele Ingenieure über Jahre gearbeitet hatten. „Das war eines der Leuchtturmprojekte, mit denen wir KI bei Wacker etabliert haben,“ so der CIO. Solche Feldversuche hätten geholfen, den Mitarbeitern die Logik und den Nutzen hinter der Technologie aufzuzeigen.
Experten aus den eigenen Reihen
Um dieses und andere KI-Projekte innerhalb des Datenfundus von Wacker zu identifizieren, rief Ramhorst die Gruppe „Analytics Services“ ins Leben. Darin wurden alle Data Scientists des Unternehmens gebündelt.
Das nötige Personal fand der IT-Chef in der Belegschaft. Ramhorst: „Viele Mitarbeiter wenden im Rahmen von Forschungsarbeiten bereits statistische Modelle an. Das war für uns eine gute Ausgangsbasis.“ Die Kollegen kennten die Prozesse im Betrieb und verstünden, was KI leisten soll. Der Münchner KI-Spezialist AppliedAI half Wacker bei der Weiterbildung.
Das Analytics-Team setzt sich aus drei Gruppen zusammen. Jede davon hat dieselbe Ausbildung erhalten, um eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Engineers kümmern sich um den technischen Zugang zu den Datenquellen und verbinden sie mit dem Data Lake. Zudem bereiten sie die Daten für den nächsten Schritt auf. Data Scientists untersuchen diese Daten anschließend auf Muster, die passende Qualität und ausreichende Menge. Sie arbeiten wiederum im Tandem mit Business Analysts, die ihnen dabei helfen, die Muster zu interpretieren und vielversprechende Use Cases für KI zu identifizieren. Für die nötigen Tools hat Wacker eine eigene Plattform aufgebaut. Daraus können sich das Analytics-Team und die Fachbereiche bedienen, wenn sie Projekte starten oder weiterentwickeln.
Hat das Analytics-Team ein Leuchtturmprojekt erfolgreich umgesetzt, geht es in den produktiven Betrieb über. Dazu wird ein Produktteam aus dem Fachbereich und der gebildet, das die KI-Anwendung wartet und weiterentwickelt. Diese Teams arbeiten selbstständig, werden bei Bedarf aber vom Analytics-Team unterstützt. Ramhorst: „So bringen wir Know-how in die Fachabteilungen, und das Analytics-Team kann sich auf neue Projekte konzentrieren.“
Bei KI-Projekten greife die klassische Logik des Projektmanagements nicht mehr, so der IT-Chef. „Es gibt keine fest definierten Ziele, Ressourcen, Dauer oder Meilensteine.“ Daher müssten in dem Bereich auch die Geschäftsprozesse anders aufgebaut werden.
Wacker setzt bei KI-Projekten ähnliche Rahmenbedingungen wie in der Forschung und Entwicklung. Am Anfang stehe eine Idee, die es zu verifizieren gilt. Wie lange das dauert, steht nicht fest, und am Ende kommt nicht immer ein positives Ergebnis heraus. Damit Vorhaben nicht aus dem Ruder laufen, definiert das Analytics-Team für jedes Projekt eigene „Stage Gates“ und Erfolgsfaktoren. An den Stage Gates wird entschieden, ob sich der Aufwand noch lohnt oder besser abgebrochen werden sollte. Die Erfolgsfaktoren bestimmen, wann ein Algorithmus ausgereift genug ist, um aus der Entwicklung in den Produktivbetrieb überzugehen.
„Die KI-Lösung ist aber nie wirklich fertig,“ so der CIO. Produktivdaten könnten unter Umständen andere Ergebnisse liefern als Testdaten, weil sich der Input ändere. Dann müsse der Algorithmus verfeinert werden. Es sei also wichtig, auch im laufenden Betrieb stets die Verbindung zwischen den Analytics- und Produktteams aufrechtzuerhalten.
Den Rückhalt für diese Art des Projektmanagements hat sich Ramhorst durch die Leuchtturmprojekte gesichert: „Wir haben dafür Use Cases gewählt, bei denen wir uns ziemlich sicher waren, dass wir positive Ergebnisse bekommen, die wir mit Altdaten verifizieren konnten.“ Die Fachbereiche hätten so den direkten Nutzen gesehen. Zudem schaffe die systematische Vorgehensweise bei den KI-Projekten Vertrauen. „Wir gründen alle Projekte auf unsere Datenstrategie, die Business-Expertise unserer Analytics-Teams und unsere Tool-Plattform,“ sagt der Manager. So vermeide man, KI-Projekte zu starten, die schlechte Erfolgsaussichten oder geringen Mehrwert für das Kerngeschäft haben.
Die richtige Wahl der Leuchtturmprojekte und der sofortige Mehrwert für die Fachbereiche waren laut Ramhorst wichtig für den Erfolg der KI-Projekte. „Wenn sich durch KI die Time-to-Market für neue Produkte verkürzt oder technische Probleme gelöst werden, die so viele Parameter haben, dass sie durch den Menschen nicht mehr überblickt werden können, erübrigen sich ROI-Diskussionen relativ schnell,“ so der CIO. Der Schlüssel sei der systematische Umgang mit den zugrundeliegenden internen und externen Daten.
Daten und Kollaboration
Darüber hinaus habe sich die Zusammenarbeit mit Partnern bewährt. Ramhorst: „AppliedAI und andere Partner bieten uns eine Art Sicherheitsnetz. Wir können Experimente machen, ohne allein dazustehen, wenn mal etwas schiefläuft.“ Gleiches gelte für den Schulterschluss mit anderen Unternehmen. So habe Wacker beispielsweise gemeinsam mit Infineon eine Plattform für Machine-Learning-Tools evaluiert und getestet, die beide Unternehmen als Ausgangsbasis für ihre KI-Projekte nutzen.
Der CIO sieht noch viele weitere Einsatzszenarien für KI, beispielsweise im Bereich Predictive Maintenance. Dennoch zieht er bereits ein positives Fazit: „KI ist heute das wichtigste Tool in unserem Werkzeugkasten, das IT-seitig den größten Hebel für die Zukunft des Unternehmens entwickelt.“
*Jens Dose ist Redakteur des CIO Magazins. Neben den Kernthemen rund um CIOs und ihre Projekte beschäftigt er sich auch mit der Rolle des CISO und dessen Aufgabengebiet.
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