An allen Ecken ruft man nach Talenten: Man müsse sie finden, entwickeln und halten. Aber niemand scheint ein Patentrezept gefunden zu haben. [...]
Haben Sie sich jemals vorgenommen, einen Marathon zu laufen oder einen Vortrag bei TED zu halten? Aber der nächste Gedanke war: „So ein Quatsch, dazu bin ich nicht talentiert genug“ – und Ihr Vorhaben wurde ad acta gelegt. Vielleicht haben Sie auch Ihre wirklich grandiose Idee zur Digitalisierung eines Geschäftsbereichs deswegen nicht geäußert und sich doch nicht auf eine neue Position im Konzern beworben, weil Sie nicht an Ihr Talent glauben. Dann habe ich gute Nachrichten für Sie: Ihr mangelndes Talent könnte der Grundpfeiler Ihres langfristigen Erfolgs sein.
Superstars – trotz durchschnittlichen Talents
Der Basketballspieler Michael Jordan gehört zu den am höchsten dekorierten und gefeierten Sportstars aller Zeiten. Seine Erfolge und Auszeichnungen aufzuzählen würde Stunden dauern. Er wurde in seiner aktiven Zeit als einer der talentiertesten Sportler der Welt bezeichnet, wobei Jordan sich nach eigenen Angaben ständig darauf konzentrierte, seine Schwächen auszumerzen. „Ich habe mehr als 9000 mal den Korb verfehlt, ich habe fast 300 Spiele verloren, 26 mal sollte ich den letzten, zum Sieg erforderlichen Wurf machen und setzte ihn daneben. Ich habe Fehler, über Fehler, über Fehler gemacht. Und deswegen bin ich erfolgreich.„
Das sagt niemand, der sein Talent als selbstverständliche Gabe ansieht. Um das zu sagen, muss man wissen, dass Talent wertlos ist, wenn man nicht unaufhörlich an seinen Fähigkeiten arbeitet. Hollywood-Superstar Will Smith sieht es ähnlich: „Ich habe mich nie als besonders talentiert angesehen. Andere haben mehr Talent als ich. Aber wenn die schlafen, arbeite ich. Wenn die essen, arbeite ich. Wenn die Pause machen, arbeite ich.“ Wenn zwei Erfolgsmenschen so über Talent sprechen, dann sollte dies uns Normalsterbliche zum Nachdenken bringen. Was könnte das für unsere Ambitionen, Talente, Träume und Ziele bedeuten?
Spielt Talent überhaupt eine Rolle?
Betrachten wir nochmals Michael Jordan: Er war zu seinen Schulzeiten eben keiner dieser Modellathleten! Mit 15 Jahren war er ein dünnes Kerlchen, der sogar aus dem Basketballteam seiner Schule flog. Ja, der große Michael Jordan wurde als nicht talentiert genug für das Team angesehen. Was für ein Rückschlag!
Viele Menschen hätten ihre Sportambitionen damit beerdigt. Nicht so Jordan. Dieses Erlebnis und sein Traum vom Profi-Basketball machten ihn zu einem wahren Arbeitstier. Der deutsche Dirk Nowitzki ist genauso. Nach einem verlorenen Spiel geht er in eine Trainingshalle und übt seine Würfe. Zwei, drei oder vier Stunden lang, was beeindruckend im Film „Der perfekte Wurf“ dokumentiert ist. Und nach einem gewonnenen Spiel, bei dem er mit sich selbst nicht zufrieden war, macht er das gleiche. Während seine Teamkameraden feiern. Verrückt und besessen? Vielleicht. Erfolgreich? Auf jeden Fall.
Als Jordan in die Hall of Fame aufgenommen wurde, erwähnte er seinen Rauswurf aus dem Schulteam als einen wichtigen Antreiber, konstant an sich zu arbeiten. Da frage ich mich: Was wäre passiert, wenn er es problemlos in die Schulmannschaft geschafft hätte? Wenn er ein Mega-Talent gewesen wäre und nicht gelernt hätte, so hart zu arbeiten? Dann, davon bin ich überzeugt, würden wir ihn nicht als den alles überstrahlenden Superstar kennen, der er heute ist.
Warum Talent der schlimmste Feind sein kann
Stellen Sie sich vor, Sie wären unglaublich talentiert. Durch Ihr Talent kommt der Erfolg anfangs von ganz alleine. Mühelos übertrumpfen Sie Ihre Kollegen. Sie fühlen sich großartig, sind der Held oder die Heldin. Das fühlt sich super an.
So geht es weiter in Ihrem Leben und ein ums andere Mal erzielen Sie ohne große Anstrengungen Bestleistungen. Ihre Kollegen verzweifeln und geben sich damit zufrieden, irgendwie durchzukommen, ohne jemals an Sie herankommen zu können. Schließlich sehen diese sich als nicht so talentiert an wie Sie es sind. Also fügen sie sich ihrem (selbst gewählten) Schicksal.
Nur ein paar Unverbesserliche rackern sich ab, um besser zu werden. Einerseits wollen diese besser werden als Sie, vor allem aber wollen sie besser sein, als sie es selbst gestern waren. „Diese armen Würmer“, denken Sie als Super-Talent. „Was für ein sinnloses Unterfangen – gegen mein Talent kommen die niemals an. Niederlagen und Rückschläge kenne ich nicht. Und das ist auch richtig so.„, geht es Ihnen durch den Kopf, während Sie deren kleinen Erfolge und zahlreichen Misserfolge beobachten.
Resilienz und die Bedeutung von Rückschlägen
Doch diese armen Würmer lernen etwas Entscheidendes für langfristigen Erfolg: Sie lernen, mit Rückschlägen umzugehen. Sie lernen, ihre Fehler zu analysieren. Sie lernen, wie sie Stärken stärken und Schwächen ausmerzen, um das mangelnde Talent auszugleichen.
Resilienz, also die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen und aus ihnen zu lernen, wird als immer wichtigere Führungsfähigkeit angesehen. Die Welt ändert sich so schnell, ist so vielschichtig und so unkalkulierbar geworden, dass wir immer häufiger mit Rückschlägen zu tun haben werden. Das Erfolgsrezept von gestern ist plötzlich wirkungslos.
Wer durch grandioses Talent gesegnet ist, ist eigentlich verflucht. Denn wenn er nicht beigebracht bekommt, dass Talent nichts wert ist, wenn man es nicht mit einer hohen Arbeitsethik und der kontinuierlichen Arbeit an sich selbst verbindet, wird derjenige niemals lernen, mit Rückschlägen umzugehen. Und damit früher oder später scheitern. Dies ist schon fatal, wenn wir nur diese Person und die Auswirkungen für sie betrachten. Es wird jedoch ein massives Risiko, wenn diese Person bedeutende Führungsaufgaben innehat.
Ein kluges Pferd springt nur so hoch wie es muss
„Ein kluges Pferd springt nur so hoch wie es muss„, ist eine alte Redensart. Ein netter Spruch, der gerne als Ausrede verwendet wird, sich nicht wirklich anzustrengen. Dabei könnte die Kernaussage auch lauten: Ein kluges Pferd arbeitet ständig an seinen Sprungfähigkeiten und setzt seine Fähigkeiten im richtig dosierten Maße ein. Denn wenn es nicht an sich arbeitet, wird es eines Tages eben nicht mehr hoch genug springen können. Die Hürden, die wir in der Geschäftswelt von morgen überspringen müssen, können wir heute noch nicht sehen. Aber wir können uns sicher sein, dass sie höher sind als heute – und sie werden so plötzlich vor uns erscheinen, dass wir keine Zeit mehr haben, dafür zu trainieren.
Jordan, Nowitzki, Smith und Co. beweisen uns, dass der Spruch „Hard work beats talent, if talent doesn’t work hard“ – „Harte Arbeit schlägt Talent, wenn Talent nicht hart arbeitet„, wahr ist. Zumindest dann, wenn man langfristig denkt.
Widerstandsfähig wird man nur dann, wenn man Widerstand erlebt. Ein Muskel wächst nur, wenn er mehr Gewicht heben muss, als er gewohnt ist. Und jeder noch so untalentierte Mensch, der aber jeden Tag trainiert, wird eines Tages mehr heben können als ein geborenes Gewichtheber-Ausnahmetalent, das nicht trainiert. Die zentrale Aussage ist: Unser Glaube, dass Talent eine unverzichtbare Voraussetzung für langfristigen und nachhaltigen Erfolg ist, ist falsch.
Die Grenzen von Talent
Zweifelsohne haben Jordan, Nowitzki und Smith eine ordentliche Portion Talent in ihre Wiege gelegt bekommen. Sie sagen jedoch selbst, dass sie ohne ihren Willen, ihre Zielstrebigkeit, die Leidenschaft für ihr Tun und ihren unbändigen Arbeitswillen niemals eine jahrzehntelange, erfolgreiche Karriere gemacht hätten. Talent hätte sie vielleicht zu einem Titel, zu einer Hauptrolle geführt. Aber dann wären sie bequem geworden und man müsste sie in der Liste der „One-Hit-Wonder“ suchen.
Die Lehre für jeden einzelnen von uns lautet: Wir sollten uns nicht von unseren Zielen abbringen lassen, weil wir glauben, nicht talentiert zu sein. Vor allem sollten wir uns niemals von jemandem einreden lassen, dass wir kein Talent haben. Denn die meisten, die uns entsprechend beurteilen, sind keine Experten in dem Metier, über das sie sich ein Urteil erlauben. Hat beispielsweise Ihr Kunstlehrer oder Ihre Musiklehrerin zu Ihnen gesagt, Sie hätten keine künstlerische oder musische Ader?
Dann frage ich Sie: Wie viele Kunstwerke hat denn der Lehrer selbst erschaffen und erfolgreich verkauft? Wie viele Konzerte hat die Lehrerin gespielt oder wie viele Melodien für Nummer-1-Hits hat sie geschrieben? Ich könnte hierüber noch weitere 100 Seiten schreiben, aber ich verweise Sie lieber auf das Buch „Out of our minds“ von Sir Ken Robinson, der klar aufzeigt, welche Fehler unser Schulsystem hat.
Als Führungskraft haben Sie eine weit über Ihr eigenes Leben hinausgehende Verantwortung, nämlich die für Ihre Mitarbeiter. Sind Sie dort auch auf weit verbreiteten Fährte nach den Talenten zu suchen und nur auf die talentierten Mitarbeiter zu achten? Während diejenigen, die nicht durch Talent überzeugen, sondern hart an sich arbeiten, übergangen werden, weil sie sich so schwer tun.
Wenn Sie die Talente beobachten, sorgen Sie eigentlich auch dafür, dass diese ständig daran arbeiten, besser zu werden und sorgen Sie bewusst dafür, dass diese sowohl Schwächen ausmerzen als auch ihre Stärken ausbauen? Oder akzeptieren Sie es, wenn diese nur auf ihr Talent aber nicht auf kontinuierliche Verbesserung setzen? Verlangen Sie auch von ihnen, dass sie ihr Talente dafür einsetzen, andere Mitarbeiter besser zu machen oder werden sie als Genies auf ein Podest gestellt, die man besser nicht mit den Normalsterblichen belästigt?
Ausnahmetalente dazu zu bringen, sich ihren Schwächen zu stellen und an sich zu arbeiten, kann ein Ding der Unmöglichkeit sein. Oder was glauben Sie, warum die Trainer der Fußballmannschaften mit den teuersten (also wohl talentiertesten) Spielern auch am besten bezahlt werden? Eigentlich müsste es doch der leichteste Job der Welt sein Real Madrid, Bayern München oder Chelsea zu trainieren. Ist es aber nicht.
Unterstützen Sie eigentlich auch diejenigen mit einem großen Potenzial und Willen, auch wenn sie nicht so talentiert sind? Was tun Sie beispielsweise, wenn ein Mitarbeiter eine schwere Aufgabe beim ersten Versuch nicht schafft? Sagen Sie: „Das war ja vorhersehbar. Einen Versuch war’s wert, aber eigentlich war es sinnlos„, oder setzen Sie darauf, dass sich derjenige entwickeln kann und helfen ihm dabei? Denken Sie an Ihren Kunst- oder Ihre Musiklehrerin zurück! Was Sie zu ihrem Mitarbeiter sagen, hat einen erheblichen Einfluss auf ihn. Ja, das gilt auch dann, wenn er 52 Jahre alt ist!
Digitalisierung, Industrie 4.0 und Talente
Die Herausforderungen der Zukunft erfordern eine ganz neue Qualität der Zusammenarbeit über alle Fachdisziplinen hinweg. Ein einzelnes Talent bringt uns nicht mehr weiter, aber eine Kombination von vielen Talenten und ständig an sich arbeitenden Teamplayern schon. Als Führungskraft müssen Sie für die von Ihnen geführten Mitarbeiter, gemeinsam mit jedem einzelnen, klar identifizieren, welche Fähigkeiten weiter ausgebaut werden sollten – und welche Eigenschaften diesen Personen für die Zukunft im Weg stehen. Es ist ein Irrglaube, dass nur diejenigen Schulungen, Coaching oder Förderung benötigen, die nicht so gut sind. Wenn dem so wäre, dann wären die Jürgen Klopps dieser Welt arbeitslos.
„Auf den Stufen zum Erfolg gibt es kein Gedränge„, weil die meisten auf den Aufzug warten – oder im Aufzug stehen und sich irgendwann wundern, warum es nicht mehr weiter nach oben geht. Nutzen Sie Ihr eigenes Talent und die Talente Ihrer Mitarbeiter als Sprungbrett für Exzellenz, indem Sie kontinuierlich daran arbeiten, zumindest ein kleines bisschen besser als gestern zu sein. Wenn Sie das jeden Tag tun, werden Digitalisierung und Co. Sie zu ganz neuen Erfolgserlebnissen bringen, anstatt als Damoklesschwert über Ihnen zu schweben.
*Axel Rittershaus: Seit 2008 fokussiert sich der ehemalige IT-Unternehmer und Bitkom-Hauptvorstand darauf, Führungskräfte und Mitarbeiter der IT-Branche als Coach und Trainer zu unterstützen. Er ist Autor des Fachbuchs „Führungspraxis für Ingenieure und IT-Experten“
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