Wie die Deutsche Bahn eine neue Vertriebsplattform baut

Mit agilen Teams und einem millionenschweren Budget entwickelt CTO Ralf Gernhold die neue digitale Vertriebsplattform der Deutschen Bahn in der Amazon-Cloud. [...]

"Wir brauchen keine agilen Fundamentalisten", sagt Ralf Gernhold, CTO bei DB Vertrieb. Mit dem Programm "Vendo" stemmt er eines der größten IT-Vorhaben der Deutschen Bahn (c) DB Vertrieb

Mehr als 500 Projektbeteiligte, 22 interdisziplinäre Entwickler-Teams und ein Budget in dreistelliger Millionenhöhe – das sind die Rahmendaten eines der größten und ambitioniertesten Projekte der Deutschen Bahn. Unter dem Namen „Vendo“ verfolgt der Konzern ein ehrgeiziges Programm zur Modernisierung der Kundenschnittstellen für bahn.de und die populäre App DB Navigator.

Programmleiter und zugleich „Abnehmer“ des Projekts ist Ralf Gernhold, seit 2019 CTO bei der Bahntochter DB Vertrieb und Head of Passenger Sales Systems. „Wir wollen Bahnkunden eine völlig neue Customer Experience bieten“, beschreibt er die Ziele. „Dazu bauen wir die erfolgsreichste Mobilitätsplattform Deutschlands auf Basis modernster Technologien neu auf.“ Nach dem Go-Live der neuen Plattform will er Altsysteme abschalten. Am Ende, so der Manager, gehe es bei Vendo darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Bahn zu erhalten.

Legacy-IT bei der Deutschen Bahn

Die IT-Systeme der Bahn stammen aus einer Zeit, in der Fahrscheine noch über andere, voneinander unabhängige Kanäle verkauft wurden. Dazu gehörten die klassischen Schalter ebenso wie Ticketautomaten in den Bahnhofshallen. Aus IT-Sicht entstanden so die berüchtigten Silos, die nicht nur zu einem hohen Aufwand bei Änderungen führten, sondern Kunden auch unterschiedliche Services, Konditionen und Berührungspunkte mit der Bahn bescherten.

Mit Vendo will der Konzern solche Probleme in den Griff bekommen und Reisenden kanalübergreifend einheitliche Benutzeroberflächen und Services präsentieren. Damit einher gehen massive Umbauten im Backend. Die Bahn setzt alle betroffenen Systeme neu auf, um die User Experience zu verbessern und zugleich die Time-to-Market zu reduzieren.

Entwicklung und Betrieb in der Amazon-Cloud

Technisch basiert Vendo komplett auf Cloud-Services, erläutert Gernhold, der vor seinem Einstieg bei der Bahn gut vier Jahre lang CIO von Miles & More war. Er setzt dabei auf eine Microservices-Architektur in der AWS-Cloud (Amazon Web Services): „Wir brechen die monolithische Software-Struktur auf und nutzen dazu State-of-the-Art-Technologien in der Cloud.“ Dazu gehört unter anderem die Container-Orchestrierungsplattform Kubernetes, die die Teams über den Amazon Elastic Kubernetes Service (EKS) einbinden. Für die Datenhaltung setzt der Konzern beispielsweise auf die Open-Source-Datenbank PostgreSQL und Amazons Storage-Service S3.

Die neue Vertriebsplattform wird nicht nur in der Amazon Cloud entwickelt, sondern auch auf den Servern des Cloud-Providers betrieben. „Das dürfte eine der größten Amazon-Installationen weltweit sein“, sagt Gernhold. Der Hyperscaler sei dabei vor allem hinsichtlich der Transaktionsvolumina und der notwendigen Hochverfügbarkeit der Plattform stark gefordert. Schon in der Vergangenheit mussten die Systeme der Bahn mehr als 1.500 Buchungen pro Minute stemmen. Ein unterbrechungsfreier Betrieb ist für den Konzern geschäftskritisch: Fällt die Plattform aus, kann er keine Tickets mehr über diesen Kanal verkaufen.

Agile Methoden und SAFe bei DB Vertrieb

Eng verbunden mit dem Vorhaben ist ein groß angelegtes Digitalisierungs– und Software Reengineering-Projekt mit DevOps-Modellen. Die Bahn setzt für Vendo auf agile Methoden und nutzt unter anderem das Scaled Agile Framework (SAFe). „Wir wollen weg von komplexen Releases und setzen stattdessen auf Continuous Delivery, Integration und Deployment“, erläutert Gernhold das Vorgehen.

Damit einher gehen auch weitreichende organisatorische Veränderungen. DB Vertrieb stellte für das in 21 Domänen aufgeteilte neue Vertriebssystem jeweils interdisziplinäre Teams auf, in denen IT- und Fachbereichsexperten zusammenarbeiten. Nach Abschluss des Programms soll eine neue Struktur entstehen, die sich um die Weiterentwicklung der Plattform kümmert.

Closed Public Beta mit 12.000 Usern

Schon Ende 2020 startete die Bahntochter mit einer „Closed Public Beta“ für die nächste App-Generation „Next DB Navigator“. Im Januar 2021 folgte die Betaversion von „next-bahn.de“. Rund 12.000 ausgewählte Bahnkundinnen und -kunden haben dabei Gelegenheit, die neuen Frontends zu testen und Feedback zu geben. Gernhold: „Das hilft uns auf dem Weg zur Produktreife auf Basis der neuen Systemarchitektur.“ Man könne damit nicht nur Funktionen testen, sondern auch Kunden-Feedbacks in die Vendo-Teams zurückspielen. Den nächsten Schritt will DB Vertrieb mit den „Public-Beta“-Versionen gehen.

So sieht die „Closed Public Beta“ der neuen „DB Navigator“-App aus. Die Bahn setzt vor allem auf eine verbesserte User Experience (c) DB Vertrieb

Der konzerneigene IT-Dienstleister DB Systel agiert dabei als Partner. „Er ist für den Betrieb der Plattform verantwortlich, unterstützt uns mit Methoden-Know-how und kümmert sich um das Sourcing“, erläutert der CTO und betont: „Die Projektverantwortung für Vendo hat DB Vertrieb.“

Gernholds Ansatz passt zur umfassenden Cloud-Strategie, die die Bahn schon seit längerem verfolgt. Seit Ende 2020 betreibt der Konzern keine eigenen Rechenzentren mehr, mehrere hundert Anwendungen wurden auf Cloud-Plattformen von Microsoft und AWS migriert. Auch in Sachen IT-Organisation und agile Arbeitsmethoden gab es in den vergangenen Jahren viel Bewegung im Konzern.

Die einstige CIO und DB-Systel-Chefin Christa Koenen brach hierarchische Strukturen in der IT auf und etablierte ein Netzwerk aus selbstorganisierten Teams. Schon 2019 erklärte die Managerin, die heute im Vorstand von DB Schenker sitzt, gegenüber dem CIO-Magazin: Agile Methoden brauche die Bahn nicht nur in der IT, sondern auch in anderen Business-Bereichen.

Lessons Learned

CTO Gernhold setzt diesen Weg bei DB Vertrieb fort – und weiß zugleich um die Schwierigkeiten, agile Methoden in einem Großkonzern einzuführen. Nach seiner Erfahrung gibt es in solchen Vorhaben häufig „drei Missverständnisse“, mit denen die Verantwortlichen umgehen müssten: „Erstens: New-Work-Protagonisten und Agilisten müssen die Führung übernehmen. Das klappt in der Praxis oft nicht. Zweitens: Geld und Zeit sind unbegrenzt vorhanden. Drittens: das agile Vorgehen bringt nur Vorteile. Die Nachteile werden oft ausgeblendet und gar nicht diskutiert.“

Vor diesem Hintergrund gehe es ihm zuvörderst darum, „die Steuerungsfähigkeit“ herzustellen. Dazu hat er ein kleines Experten-Team um sich geschart und ein ausgefeiltes Reporting-System eingeführt. Jede Woche tagt ein „Delivery Management Board“ mit allen wichtigen Verantwortlichen. Dabei geht es vor allem um Status-Updates, Erfolge und das Lernen aus Misserfolgen sowie um eine Einschätzung von Risiken für den künftigen Programmverlauf. Erfolgsentscheidend sei am Ende aber, die richtigen Leute an Bord zu holen, zieht Gernhold eine Zwischenbilanz. Das gelte insbesondere für die Akzeptanz agiler Methoden im Unternehmen: „Wir brauchen keine agilen Fundamentalisten.“

*Wolfgang Herrmann ist Editorial Manager CIO Magazin bei IDG Business Media. Zuvor war er unter anderem Deputy Editorial Director der IDG-Publikationen COMPUTERWOCHE und CIO und Chefredakteur der Schwesterpublikation TecChannel.


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