Belastungsprobe für die ERP-Architektur

Steigende Geschäftsanforderungen bezüglich der Flexibilität und neue Techniken rund um Cloud Computing, Mobility und In-Memory-Computing fordern die ERP-Systeme. Anwender müssen rechtzeitig reagieren. [...]

Unternehmenswachstum ankurbeln, neue Kunden gewinnen, Betriebskosten senken und die Entwicklung neuer Produkte und Services sicherstellen – das sind die wichtigsten Business-Prioritäten, um die sich die CIO in diesem Jahr kümmern wollen, wie die Analysten von Gartner ermittelt haben. Wie wichtig dabei eine solide Basis rund um das ERP-System ist, zeigt ein Blick auf die technischen Prioritäten der IT-Verantwortlichen. Neben Business Analytics, Mobility und Cloud Computing taucht in der Top-Ten-Liste 2012 erstmals seit Jahren wieder das Thema ERP auf.

Experten sind sich einig, dass der Druck auf die Verantwortlichen wächst, sich in Sachen Business-Software besser aufzustellen. „Die Unternehmen stehen vor der Herausforderung, dass sie ihre ERP-Systeme in immer kürzeren Zyklen anpassen müssen“, konstatiert Frank Niemann, Principal Consultant bei Pierre Audoin Consultants. Dabei gerate ERP von verschiedenen Seiten unter Druck. Der immer härtere Wettbewerb erfordere, die eigene Geschäftsstrategie kontinuierlich zu hinterfragen. Unternehmen müssten ihre Produkte und Preise laufend den Gegebenheiten des Markts anpassen. Darüber hinaus stellten immer mehr Nutzer immer höhere Anforderungen. „Sie wollen nicht mehr nur Transaktionen abwickeln, sondern mehr Entscheidungsunterstützung“, sagt Niemann.

Um diese Herausforderungen meistern zu können, brauchen die Unternehmen moderne ERP-Systeme. Doch davon sind die meisten weit entfernt. „In vielen Unternehmen werden noch ältere Versionen von ERP-Systemen eingesetzt, die in ihrer Architektur historisch bedingt eher monolithisch und somit den aktuellen Anforderungen nur eingeschränkt oder nicht gewachsen sind“, ziehen Vertreter der Deutschen Baan Usergroup (DbuG) Bilanz. Viele Anwendungen entstammten einer über Jahre hinweg gewachsenen ERP-Landschaft, bestätigt Uwe Günzel, Vice President im Bereich Application Services von Capgemini. Dabei ließen sich zwei Ausprägungen unterscheiden nämlich die zentrale, mit einem starren, monolithisch geprägten ERP-System, mit dem das gesamte Unternehmen arbeitet, oder eine dezentrale mit vielen lokalen oder funktional spezialisierten ERP-Systemen. „Beide Ausprägungen sind jedoch nur bedingt dafür geeignet, sich mit neuen Techniken auseinanderzusetzen“, lautet das Fazit des Capgemini-Experten. „Mit den herkömmlichen Architekturen stoßen viele Unternehmen an die Grenzen.“

Die Notwendigkeit, ERP-Architekturen zu modernisieren, scheint jedoch nicht überall erkannt worden zu sein. Viele Anwender hätten sich in der Vergangenheit meist nur mit der funktionalen Erweiterung ihrer Systeme beschäftigt und die zugrunde liegende ERP-Architektur vernachlässigt, bilanziert Norbert Gronau vom Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Electronic Government an der Universität Potsdam. „Die typische Anwendersicht ist fast nie architekturgeprägt.“ Für Unternehmen in einem dynamischen Marktumfeld könnte das ein Problem werden, mahnt der Professor. „Wer Flexibilitätsbedarf hat, muss sich unbedingt mit Architekturfragen beschäftigen.“ Eine moderne Software-Infrastruktur, die sich auf die vorhandenen Prozesse abstimmen lässt und auch auf Änderungen flexibel reagiert, kann zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden. „Aber auch zu einem Hemmschuh im umgekehrten Fall,“ weiß Michael Gottwald vom Hamburger Beratungshauses Softselect. Es sei daher zu kurz gedacht, eine Software nur nach funktionalen Gesichtspunkten zu bewerten. Funktionen ließen sich in Release-Zyklen erweitern beziehungsweise nachrüsten, eine offene und flexible Basisarchitektur nicht.

Auf Anwenderseite will man sich indes nicht vorwerfen lassen, das Architekturthema vernachlässigt zu haben. „Anwender beschäftigen sich mit dem Thema Architektur“, stellen die Vertreter der DbuG klar. Schließlich sei das ERP-System die zentrale Geschäftsanwendung und die Architektur als ein wesentliches Mittel zur Integration mit anderen Geschäftsanwendungen zu betrachten. Zwar gehe es im Rahmen von ERP-Modernisierungen auch immer um funktionale Erweiterungen, aber „dies ist ein Teilaspekt, jedoch nicht der primäre Fokus“. Was letztlich eine moderne ERP-Architektur ausmacht, scheint in Anwenderkreisen zumindest teilweise auch Ansichtssache zu sein. In der Konzern-IT schaut man durchaus auf die ERP-Architekturen und analysiert die Softwarelandschaften hinsichtlich ihrer „Bewirtschaftbarkeit“ sowie „Nachführbarkeit bei strukturellen Veränderungen“, berichtet Karsten Sontow, Vorstand der Trovarit AG. „Der klassische Mittelständler fordert zwar lautstark ein flexibles und anpassbares ERP, sieht aber nicht, dass dies eigentlich Architekturthemen sind.“ Außerdem gibt es unterschiedliche Kriterien für Flexibilität. Für so manchen IT-Leiter sei ein ERP-System bereits flexibel, wenn er die Feldlängen in Formularen variieren könne. „Ob das immer originär eine Frage der Architektur sein muss, sei dahingestellt“, lässt der ERP-Kenner offen.

Anlässe, das eigene ERP zu modernisieren, gibt es aus Sicht der Experten genug. „Derzeit kommen einige neue technische Möglichkeiten ins Spiel, die das Zeug haben, dass ERP-Systeme alter Prägung überdacht werden“, sagt Capgemini-Manager Günzel. Jenseits von kleineren Pilotprojekten ließen sich Techniken rund um In-Memory-Computing, Virtualisierung, Cloud und Mobile Solutions erst dann umfassend nutzen, wenn die Architektur entsprechend angepasst sei. Doch zuvor müssten erst einmal grundlegende Hausaufgaben erledigt werden. Die Unternehmen fänden es zwar toll, wenn man mit SAP Hana zwei Milliarden Datensätze innerhalb von Sekundenbruchteilen auswerten könne. „Doch solange keine Datenharmonisierung über die verschiedenen Unternehmensteile hinweg erfolgt ist, bringt die neue Technik erst einmal gar nichts.“ Günzel mahnt deshalb als ersten Schritt auf dem Weg zu einer neuen ERP-Architektur eine Harmonisierung von Prozessen und Daten an. Erst dann könne man sich überlegen, an welchen Stellen im Unternehmen Techniken wie Hana wirklich Sinn machen. (idg/aw)


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