Das Jahr der angewandten KI

Die beiden Confare-Masterminds Barbara Klinka-Ghezzo und Michael Ghezzo philosophieren im Interview mit ITWelt.at über die digitale Transformation, die Auswirkungen von ChatGPT und darüber, warum die Human Experience das eigentlich Ziel der Digitalisierung ist. [...]

Barbara Klinka-Ghezzo und Michael Ghezzo (c) Confare
Barbara Klinka-Ghezzo und Michael Ghezzo (c) Confare

ChatGPT hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Ihr habt durch die Vernetzung von IT-Profis einen Einblick in zahlreiche Unternehmen und Branchen. Wie wirkt sich das „Jahr der angewandten KI“ konkret aus?

Der Erfolg von ChatGPT in kurzer Zeit hat deutlich gemacht, dass die digitale Transformation ihr disruptives Potenzial noch nicht verbraucht hat. Es hat nur Tage gedauert, bis Millionen Menschen die Anwendung ausprobiert haben – viel schneller als bei irgendeiner anderen digitalen Innovation. Aufsehenerregend ist dabei, dass künstliche Intelligenz in einem Bereich einschlägt, von dem es keiner vermutet hätte. Nicht nur standardisierte Prozesse und stupide wiederkehrende Standardaufgaben werden digital automatisiert – KI schreibt Gedichte, Kinderbücher und Melodien. Kreativität und Kunst bleiben nicht mehr dem Menschen vorbehalten. Es ist absehbar, dass die allgemeine Verfügbarkeit, die einfache Bedienung und die hohe Funktionalität schnell verändern werden, wie in Unternehmen getextet, gelernt und kommuniziert wird.

Müssen nun Autoren, Journalisten und Künstler um ihre Jobs fürchten? Sind Softwareentwickler und Produktdesigner bald ersetzbar?

Die Antworten darauf sind zweischneidig. Die Experten antworten diplomatisch: „Nicht die KI wird Menschen ersetzen, sondern Menschen, die KI sinnvoll einsetzen, werden Menschen ersetzen!“ So lautet eine gängige Sichtweise. Das bedeutet jedoch keineswegs Entwarnung. Tatsächlich braucht es weniger Personen, um dasselbe Ergebnis zu bekommen. Aber daneben entstehen bereits die neuen Berufsbilder. Als KI Prompter zum Beispiel stehst Du vor der Aufgabe, KI-Tools so genaue Instruktionen zu geben, dass die Ergebnisse perfekt auf die Anforderungen passen. Zum Vergleich: der Siegeszug des Automobils hat eine Menge Kutscher, Stallmeister und Angehörige vieler Berufsgruppen arbeitslos gemacht, hat aber gleichzeitig viel mehr neue Arbeitsplätze geschaffen. Leider ist anzunehmen, dass davon nur wenige der Kutscher profitiert haben.

Für Unternehmen bedeutet das noch viel mehr, dass das eigene Produkt, Geschäftsmodell oder Marketing von disruptiven Playern angegriffen werden können. Der Wert von Intellectual Property muss neu gedacht werden, wenn Spezialisten-Systeme Erfindungen machen können und Software Software entwickelt. Wer tut, was er immer schon getan hat, wird immer leichter ersetzbar. Erfolgreich wird der sein, der sich nicht dort positioniert, wo es alle anderen auch tun. Mut und Originalität sind noch wichtiger als bisher.

Was bedeutet denn digitale Disruption heute noch? Wem droht das Schicksal von Kodak, Encyclopedia Britannica und Videothek?

Die klassischen disruptiven Beispiele haben eines gemeinsam: ein bisher analoges Produkt wurde durch ein digitales ersetzt oder bisher analoge Vorgänge wurden digitalisiert. Heute ist das disruptive Potenzial vielschichtiger. Ein Produkt kann zum Beispiel nicht nur ersetzt werden, es kann auch obsolet werden. Ein Mitbewerber kann kundennäher und schneller agieren, weil er seine internen Prozesse agiler, weniger hierarchisch und skalierbarer aufgestellt hat. Legacy und Technical Debt können verhindern, dass man im Markt mitspielen kann oder Unternehmen, die neue Vertriebskanäle nutzen, können einem den Rang ablaufen. Daher nochmal: Je mehr Produkte und Dienstleistungen Standard sind, je mehr Abläufe altbewährt sind und je länger man die Augen vor Veränderungen verschließt, umso mehr läuft ein Unternehmen, ein Mitarbeiter oder ein Produkt Gefahr ersetzbar zu sein. „Stand out of the crowd!“ heißt das Motto für Erfolg.

Lösen KI, ChatGPT und Automatisierung den Fachkräftemangel in der IT?

Das Problem zu lösen, wird langfristig eine gesellschaftliche Herausforderung sein, zu der KI und Automatisierung sicherlich beitragen werden. Beispiel Cybersecurity: schon jetzt mangelt es an Experten. Gleichzeitig führen die intensiveren Anforderungen an Dienstleister in Bezug auf Zertifizierungen, Compliance und Qualitätsnachweise durch NIS2 dazu, dass sich das Angebot konsolidiert, während der Markt größer wird. Allein werden Unternehmen im Mittelstand dieser Herausforderung nur schwer begegnen können. Es braucht daher mehr Zusammenarbeit, auch über Unternehmensgrenzen hinweg. Und es braucht den intelligenten Einsatz von Automatisierung und KI.

Der Einfluss von demografischen Entwicklungen wird immer zwingender. Stefan Latuski ist CEO des IT-Systemhaus der Bundesagentur für Arbeit und ein wichtiges Mitglied der Confare CIO-Community in Deutschland. Die größte Behörde Deutschlands wird in den nächsten Jahren durch natürlichen Abgang zehntausende Mitarbeiter verlieren. Stefan hat daher mit seinem Team ein enormes Transformationsprojekt gestartet. Ein wichtiger Bestandteil sind dabei eben die Modernisierung und Automatisierung. Man ist überzeugt nur so trotz der unvermeidbaren Lücken handlungsfähig zu bleiben. Die IT bekommt durch den wachsenden Arbeitskräftemangel eine enorme Bedeutung, dessen müssen sich IT-Entscheider bewusst sein. Ich denke, es gibt mehrere Ansätze um als Unternehmen damit umzugehen:

  • KI und Automatisierung aktiv nutzen
  • Eine noch intensivere Zusammenarbeit mit den Fachbereichen, zum Beispiel durch Citizen Developer, Low- und No-Code und das Auslagern von IT-Agenden in die Fachbereiche
  • Die Arbeitsweisen im Unternehmen hinterfragen und modernisieren
  • Beim Recruiting neue Wege gehen
  • Über Unternehmensgrenzen hinaus zusammenarbeiten. Das kann zum Beispiel beim Thema Cybersecurity ein wichtiger Faktor sein.
  • Ein Fokus auf die Menschen im Unternehmen
  • Darüber hinaus besteht ein großer politischer und gesellschaftlicher Handlungsbedarf. Bildung, Migration, Arbeitsrecht: da gibt es überall viel zu tun

Wie hängen denn KI, digitale Transformation und Nachhaltigkeit zusammen?

Das hat zwei Seiten. Die digitale Transformation ist wohl der wichtigste Hebel um die Nachhaltigkeits-Agenda im Unternehmen voranzubringen. Und das ist mehr als nur das gesetzlich vorgeschriebene ESG-Reporting. KI, Plattformen und Software können einen wesentlichen Beitrag leisten um die drei R der Nachhaltigkeit umzusetzen: Reduce, Reuse, Recycle. Sie können Lieferketten transparent machen und so sicherstellen, dass Lieferanten nachvollziehbar sozial verträgliche und umweltfreundliche Produkte liefern. Die Cloud trägt dazu bei, Rechenzentren zu konsolidieren und so den Stromverbrauch zu reduzieren. CIOs können einerseits durch den Abbau von Legacy-Systemen, durch das Nutzen von Refurbish-Angeboten und durch ein sorgfältiges Management des Hardware-Lifecycles dazu beitragen.

Gleichzeitig sind IT und Digitalisierung aber auch gigantische Stromfresser. Die Pandemie hat das noch weiter befeuert. Streaming, der verschwenderische Umgang mit Daten und Speicher und eine Unmenge an digitaler Kommunikation hinterlassen ihren CO2-Fußabdruck. Eine KI gestützte Suchmaschinenabfrage ist Schätzungen zu Folge vier- bis fünfmal aufwendiger als eine herkömmliche. Der Stromhunger der Digitalisierung steigt enorm. Der Bedarf wird schneller größer, als wir den Ausbau von erneuerbaren Energiequellen vorantreiben können. Daher muss Effizienz zu einem der wichtigsten Ziele bei den Chips- und Computer-Herstellern, Rechenzentrums-Betreibern und CIOs werden, damit die Umweltbelastung, ausgelöst durch die digitale Transformation, nicht zu einem Hemmschuh der Energiewende wird. Es macht auch Sinn, die Datensammelwut unserer Zeit durch die Maxime der Datensparsamkeit zu ersetzen.

Ein wichtiger Faktor dabei sind Inklusion und Diversity. Nur etwa 18 Prozent der Menschen in der Unternehmens-IT sind weiblich. Je breiter sich die Gesellschaft in den IT-Organisationen widerspiegelt, umso besser kann die IT dazu beitragen, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Rund um das Thema Frauen in der IT gibt es aber schon sehr viel Bewegung. Frederike Fritzsche ist Tech Ambassador bei OTTO. Das ist ein Unternehmen mit einer fantastischen Transformation-Journey – vom Versandhaus mit Tradition zum digitalen Vorzeigebeispiel. Bei OTTO hat man sich vorgenommen mehr als 50 Prozent der zu besetzenden Jobs mit Frauen zu besetzen. Frederike hat berichtet, dass man im Februar sogar 60 Prozent erreicht hat.


Frederike, Stefan Latuski und andere IT- und Digitalisierungs-Entscheider sind im Übrigen bei der Confare Impact Challenge nominiert. Auf unserer Website kann man sie beim täglichen Voting mit einer Stimme unterstützen (https://confare.at/confare-impactchallenge-app/). Auch wir sind mit dem von Barbara initiierten Female IT-Mentoring sehr aktiv dabei, hier etwas zu verändern.

Was bedeuten diese Entwicklungen eurer Meinung nach für den CIO?

ChatGPT zeigt: es ist nicht die Technologie, die uns einschränkt, sondern unsere Fähigkeit diese sinnstiftend einzusetzen. Wenn Computer fähig sind Gedichte zu schreiben, bleibt es dem Menschen überlassen sich zu fragen: Warum schreiben wir Gedichte? Warum lesen wir Gedichte? Folgen wir der Analogie: Das Warum der digitalen Transformation dreht sich immer um den Menschen. Die Customer Experience, die User Experience, die Employee Experience, das sind die am meisten zitierten Ziele. Am liebsten spreche ich also von der Human Experience – sie ist das eigentliche Ziel der Digitalisierung.

Umso mehr muss es also Aufgabe der IT-Chefs sein, die Technologie im Sinne der Menschen verantwortungsbewusst einzusetzen. Wenn es uns gelingt, zum Beispiel mit dem Confare CIO Award und unserer Plattform Livin-IT.net den Menschen zu zeigen, dass es bei IT nicht nur um Bits und Bytes geht, nicht nur um Computer und Coding, sondern um Menschen, gesellschaftliche Verantwortung und Zusammenarbeit, dann wird das auch die Attraktivität der IT als Arbeitgeber erhöhen, so dass sich mehr junge Menschen in ihrer Ausbildung für IT und Digitalisierung begeistern. Lasst uns die Human Experience also zum zentralen Ziel der IT-Organisation machen.


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