Spätestens die jüngsten Krisen zeigen: Digitale Souveränität ist strategische Notwendigkeit. Gefragt ist keine totale Unabhängigkeit, sondern technologische Handlungsfähigkeit – pragmatisch und europäisch. [...]
Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen haben die Debatte über Europas technologische Unabhängigkeit und digitale Souveränität deutlich intensiviert. Längst geht es nicht mehr allein um wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, sondern um Fragen der nationalen Sicherheit und gesellschaftlichen Resilienz.
Mit der Ausrufung der „Digitalen Dekade“ verfolgt die Europäische Union das Ziel, bis 2030 in strategischen Bereichen wie Dateninfrastruktur, Halbleitertechnologie, Cloud Computing und künstlicher Intelligenz deutlich unabhängiger zu werden. Die damit verbundenen Investitionen markieren nicht nur eine finanzielle Kraftanstrengung, sondern auch einen pragmatischen Paradigmenwechsel in der europäischen Digitalpolitik.
In ihrer im Juni 2025 vorgestellten Internationalen Digitalstrategie bezieht die Europäische Kommission klar Position: Eine vollständige technologische Entkopplung von den USA und anderen führenden Digitalmächten sei „unrealistisch“. Stattdessen verfolgt die Strategie einen Ansatz der „strategischen Rekalibrierung“, der gezielte Kooperationen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Mitgestaltung globaler Standards in den Vordergrund stellt.
Realitätscheck
Damit räumt die EU offen ihre strukturellen Abhängigkeiten ein – etwa von US-amerikanischen Cloud-Anbietern, die rund zwei Drittel des europäischen Marktes dominieren, ebenso wie bestehende Defizite bei der Skalierung von KI-Lösungen und einen globalen Halbleiteranteil von unter 10 Prozent. Die Strategie erkennt ausdrücklich die „überlegene Innovationsfähigkeit“ der USA an – ebenso wie Europas eigenes „Versäumnis, die digitale Revolution zu nutzen“.
Im Mittelpunkt der neuen Ausrichtung stehen die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch Partnerschaften, der gezielte Ausbau strategischer Technologien – darunter künstliche Intelligenz, 5G/6G, Halbleiter, Quantencomputing und Cybersicherheit – sowie der Aufbau eines Digital Partnership Network mit modularen, interoperablen Technologielösungen.
Das erklärte Ziel ist nicht Autarkie, sondern ein balancierter Ansatz: technologische Handlungsfähigkeit durch internationale Zusammenarbeit – ein europäischer Stack („EuroStack“), der auf Offenheit und strategischer Vernetzung beruht.
Die Schattenseite: „Sovereignty Washing“
Parallel zur strategischen Neuausrichtung Europas reagieren auch die großen US-amerikanischen Hyperscaler auf den zunehmenden Druck in Sachen digitaler Souveränität. Anbieter wie Microsoft, Amazon Web Services (AWS) und Google bieten inzwischen sogenannte „Sovereign Cloud“-Lösungen an. Diese versprechen, Kundendaten innerhalb der EU-Grenzen zu speichern, Verschlüsselungsschlüssel beim Kunden zu belassen und den administrativen Zugriff ausschließlich durch in Europa ansässiges Personal zu gewährleisten – etwa im Rahmen von Microsofts Data-Guardian-Programm.
Doch es regt sich Kritik, wie Andreas E. Thyen, Präsident des Verwaltungsrates der LizenzDirekt AG, in einem aktuellen Gastbeitrag schreibt. Markus Noga von IONOS spricht in diesem Zusammenhang von „Sovereignty Washing“. Die Sorge: Der Begriff digitale Souveränität werde zunehmend entpolitisiert und zu einem reinen Marketing-Feature degradiert. Die zentrale Frage bleibt: Kann wahre Unabhängigkeit von einem US-Konzern ausgehen, wenn Technologie, Updates und Entscheidungsgewalt weiterhin zentral in den USA verbleiben? Das Szenario wird nicht selten mit dem Bild des „Fuchses, der verspricht, den Hühnerstall zu bewachen“ verglichen.
Die europäische Antwort auf die Dominanz der US-Cloudanbieter bleibt bislang zersplittert. Initiativen wie Gaia-X konnten bisher keine tragfähigen Alternativen etablieren. Stattdessen bevorzugen viele europäische Unternehmen strategische Kooperationen mit den Hyperscalern, anstatt eigenständige Infrastrukturprojekte voranzutreiben. Diese mangelnde Geschlossenheit spielt den US-Anbietern in die Hände: Sie können den Begriff der Souveränität für sich beanspruchen – und gleichzeitig bestehende Abhängigkeiten weiter festigen.
„Made in Europe“
Digitale Souveränität wird als die Fähigkeit verstanden, technologische und operative Entscheidungen unabhängig von externen Einflüssen zu treffen – sie umfasst die Kontrolle über Daten, Prozesse und Schlüsseltechnologien. Angesichts der genannten Herausforderungen sind konkrete, belastbare Initiativen entscheidend, um diese Souveränität in Europa systematisch zu stärken. Und davon existieren mittlerweile zahlreiche.
Einen konkreten und wegweisenden Beitrag zur digitalen Souveränität leistet die Kooperation des Schweizer Technologieunternehmens Punkt. mit dem deutschen Hersteller Gigaset. Gemeinsam entwickeln sie in Europa gefertigte Mobilfunkgeräte für Geschäfts- und Privatkunden – mit dem Ziel, eine global verfügbare Alternative zu den etablierten Big-Tech-Produkten zu schaffen.
Laut eigenen Angaben zählt Punkt. zu einer wachsenden Zahl Schweizer Tech-Unternehmen, die bewusst gegen die datengetriebenen Werbemodellen der großen Plattformanbieter antreten. Statt Nutzerdaten für Werbezwecke zu monetarisieren, setzt Punkt. auf ein transparentes Abo-Modell, bei dem Kundinnen und Kunden aktiv für den Schutz und die Speicherung ihrer persönlichen Daten bezahlen – und dabei die vollständige Kontrolle behalten.
Die Geräte basieren auf europäischer Software des Schweizer Unternehmens Apostrophy und sollen eine sogenannte „native Vertrauenskette“ schaffen, die Datenschutz, Compliance und Benutzerfreundlichkeit von Grund auf integriert. Produziert werden die Geräte zu 100 Prozent mit CO₂-freiem Grünstrom am Gigaset-Standort in Bocholt, Deutschland.
In einem Interview mit ITWelt.at betont Petter Neby, CEO von Punkt., die Relevanz echter Wahlfreiheit: „Es geht darum, Wahlmöglichkeiten zu schaffen, wo es bisher kaum welche gibt. Wenn Kundinnen und Kunden die Option haben, Mobilgeräte aus europäischer Produktion zu wählen, ist das ein wichtiger Anfang.“
Er räumt jedoch ein, dass der Weg dorthin herausfordernd war: „Natürlich war das nicht leicht – angesichts der Dominanz von Big Tech und ihrer geografischen Vormachtstellung. Umso erfreulicher ist es, dass wir mit Punkt. und Gigaset einen realisierbaren Weg gefunden haben: Geräte aus europäischer Fertigung, betrieben mit europäischer Software eines Schweizer Unternehmens.“ Zugleich appelliert Neby an die Politik, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen: „Es braucht einen fairen Wettbewerb. Viele bestehende Hürden begünstigen derzeit vor allem außereuropäische Marktführer – und deren technologische Entwicklung war der Regulierung lange Zeit weit voraus. Mit dem Digital Markets Act und dem Digital Services Act sind erste wichtige Werkzeuge vorhanden. Jetzt gilt es, diese auch konsequent umzusetzen, um europäische Technologieanbieter gezielt zu fördern.“
Was die Zielgruppen betrifft, so komme das Interesse an Alternativen zu den Angeboten von Big Tech aus ganz verschiedenen Richtungen. „Digitale Souveränität wird für viele Unternehmen und Privatpersonen zu einem immer wichtigeren Thema. Einerseits sind das natürlich sicherheitsbewusste Unternehmen und Konzerne sowie technikaffine Kunden, die wissen, wie wichtig Datenschutz ist und warum er ein grundlegendes Recht darstellt, das es zu schützen gilt. Zunehmend gibt es aber auch Menschen, die traditionell nicht als ›technikaffin‹ gelten, sich jedoch immer mehr bewusst werden, dass sie selbst das Produkt von Big Tech sind. Sie entwickeln das Gefühl, mehr Kontrolle über ihre digitale Souveränität haben zu wollen. Im größten Markt der Welt kann selbst eine ›Nische‹ hunderte Millionen von Menschen umfassen“, sagt Petter Neby im Interview mit ITWelt.at.
Gebrauchtlizenzen
Der bereits erwähnte Verwaltungsratspräsident der LizenzDirekt AG, Andreas E. Thyen, weist darauf hin, dass „das bislang effektivste Mittel zur Stärkung europäischer Nutzerrechte im Urteil des EuGH vom 3. Juli 2012“ stecke. „Es bestätigte, dass unbefristete Softwarelizenzen nach dem Erstverkauf frei weiterveräußert werden dürfen. Das Verbreitungsrecht des Herstellers ist erschöpft, sobald eine Softwarelizenz verkauft wurde. Für Kunden entstand dadurch ein Sekundärmarkt, auf dem identische Produkte deutlich günstiger angeboten werden. Öffentliche Auftraggeber sind aufgrund der wirtschaftlichen Erwägungen sogar verpflichtet, Gebrauchtlizenzen in ihre Ausschreibungen einzubeziehen. Ein Praxisbeispiel: Viele Verwaltungen benötigen aus Kompatibilitätsgründen ältere Programmversionen – etwa Microsoft Office 2016 statt der neuesten Version. Microsoft verkauft offiziell aber immer nur die aktuelle Version, was Behörden zwingen würde, teure Lizenzen zu kaufen und dann ein Downgrade durchzuführen. Auf dem Gebrauchtsoftware-Markt hingegen können sie gezielt die benötigte Version (z.B. Office 2016) erwerben und so unnötige Ausgaben vermeiden“, so Andreas E. Thyen.
A1-Offensive
A1 positioniert sich im Kontext digitaler Souveränität als Infrastrukturpartner, der Unternehmen und öffentliche Einrichtungen in Österreich dabei unterstützen will, mehr Kontrolle über ihre digitalen Systeme und Daten zu erlangen. Dabei setzt A1 auf eine Kombination aus lokaler Verankerung, europäischer Technologiepartnerschaften und regulatorischer Konformität.
Kern des Angebots ist eine hybride Cloud-Strategie: Daten können in eigenen A1-Rechenzentren innerhalb Österreichs gespeichert werden, ergänzt durch die Integration der europäischen Public-Cloud-Plattform Exoscale. Damit sollen insbesondere Unternehmen mit hohen Anforderungen an Datenschutz und Datenresidenz angesprochen werden. Parallel dazu unterstützt A1 Open-Source-basierte Kollaborationslösungen, etwa in Zusammenarbeit mit Nextcloud.
Sicherheitsaspekte spielen ebenfalls eine zentrale Rolle: Ein eigenes Cyber Defense Center dient der Früherkennung und Abwehr von Angriffen, zudem bietet A1 Unterstützung bei der Umsetzung regulatorischer Vorgaben wie NIS2 oder DORA. Für kritische Infrastrukturen stellt A1 campusbasierte 5G-Netze bereit, bei denen Daten lokal verarbeitet werden können und der Betrieb auch im Krisenfall aufrechterhalten bleibt. Die vollständige Versorgung über österreichische SIM-Karten sowie die Autarkie gegenüber internationalen Backbone-Abhängigkeiten stehen hier im Fokus.
Allgemeine Empfehlungen
Last but not least zeigt Avision, mit welchen allgemeinen Maßnahmen Unternehmen digitale Selbstbestimmung zurückgewinnen können:
- In interne Infrastruktur investieren: Gezielte Investitionen in eigene IT-Infrastruktur oder Private-Cloud-Lösungen ermöglichen Unternehmen, die Kontrolle über sensible Daten und geschäftskritische Anwendungen zurückzugewinnen. Besonders bei Informationen, die der DSGVO unterliegen oder geistiges Eigentum betreffen, empfiehlt es sich, verstärkt auf On-Premises-Systeme oder Hosting bei vertrauenswürdigen IT-Dienstleistern zu setzen.
- Open-Source-Alternativen prüfen: Open-Source-Software bietet vollen Zugang zum Quellcode – sicherheitskritische Komponenten können unabhängig überprüft und potenzielle Schwachstellen wie versteckte Datenabflüsse ausgeschlossen werden. Darüber hinaus vermeiden Unternehmen Herstellerabhängigkeit und den sogenannten Lock-in-Effekt. Sie bleiben flexibel, können Lösungen anpassen, weiterentwickeln und selbst betreiben.
- Portierbare Anwendungen bevorzugen: Softwarelösungen sollten auf offenen Standards basieren und portierbar sein – etwa durch Containerisierung oder flexible Integrationsmöglichkeiten. So lassen sich Anwendungen unabhängig von der Infrastruktur betreiben und bei Bedarf zwischen Cloud-Plattformen oder ins eigene Rechenzentrum migrieren. Auch hier wird die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern reduziert.
- Verbreitete Technologien einsetzen: Unternehmen sollten auf bewährte, breit unterstützte Technologien setzen. Anwendungen, die seltene Programmiersprachen oder exotische Frameworks nutzen, erfordern spezialisiertes Knowhow – was Wartung und Weiterentwicklung erschwert. Breite Community-Unterstützung hingegen gewährleistet Zukunftssicherheit und größtmögliche Handlungsfreiheit.
Schon die wenigen Beispiele zeigen, dass es bereits Ansätze gibt, die auf Eigenkompetenzen, lokale Stärken und konsequente Rechtsrahmen setzen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen gemeinsam daran arbeiten, diesem „neuen Pragmatismus“ Leben einzuhauchen. Andernfalls entstehen Abhängigkeiten, die über wirtschaftliche Aspekte hinausreichen – sie betreffen letztlich die Kontrolle über die eigene Zukunft.

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