Die Pandemie führt überall zu einem Digitalisierungsschub – auch in der Industrie. Im Interview spricht Rittal-Geschäftsführer Marcus Schellerer über die Vorteile, die die Digitalisierung Rittal und seinen Kunden bietet. Diese reichen vom digitalen Zwilling bis zu Fernwartung und Predictive Maintenance in der zunehmend smarter werdenden Fertigung. [...]
Die COVID-19-Krise treibt die Digitalisierung in ungeahntem Maß voran. Was bedeutet das für Rittal als Unternehmen, wie auch für die Produktlinie?
Wir haben in den letzten fünf Jahren 80 Prozent des Industriekernsortiments erneuert. So ist z.B. mit dem Blue e+ eine neue Kühlgeräteserie entstanden, der VX löst den TS8 ab, der AX löst den AE ab. Der Hintergrund dieser Maßnahmen war, dass für die Digitalisierung entsprechende 3D-Daten benötigt werden. Diese 3D-Daten bei einem älteren Produkt nachzupflegen, wäre extrem aufwändig gewesen. Man entschied sich daher, eine neue Produktlinie aufzusetzen, die all die Features, die ich zur Digitalisierung benötige – Stichwort Digitaler Zwilling – schon in den »Genen« mit sich trägt.
Zur Pandemie als Digitalisierungstreiber: Viele Firmen sind seit vielen Jahren intensiv dabei, ihre Prozesse umzustellen. Wir hatten jedoch bis 2018 Hoch- und Höchstkonjunktur, wo für die Digitalisierung vor allem bei den KMUs nur beschränkt Zeit und Personal vorhanden war. Es wurde darauf geachtet, die Kundenaufträge zu bedienen und die Aufträge abzuarbeiten. Die Pandemie hat jetzt gezeigt, wie vieles möglicherweise aus dem Home Office heraus machbar ist, wenn die dafür nötigen Grundstrukturen aufgebaut wurden. Dann kommt man auch mit reduzierten Arbeitszeiten – Stichwort Kurzarbeit – besser über die Runden.
Das betrifft Ihre Kunden. Wie sieht es bezüglich Digitalisierung bei Rittal aus? Was haben Sie umgesetzt und was fehlt noch?
Wir haben vor etwas mehr als zwei Jahren in unserem Stammsitz in Haiger in Mittelhessen ein komplett neues Kleingehäusewerk gebaut. Dort fertigen wir aktuell die neue Produktserie AX und KX – im Prinzip Serienprodukte, die wir in unterschiedlichen Losgrößen dank flexibler Roboter sehr individuell fertigen können. Wir generieren und verarbeiten pro Tag in dem Werk 18 Terabyte Daten. Nur einen Bruchteil dieser Datenmengen benötigen wir für Predictive Maintenance oder Korrekturenmaßnahmen, bei denen Produkte automatisch vermessen und im Falle dass Abweichungen festgestellt werden eine eine automatische Korrektur erfolgt.
Die Friedhelm-Loh-Gruppe entwickelt sich seit Jahren verstärkt in Richtung IT-Infrastrukturlösungen. Wir haben Unternehmen gekauft wie die Firma iNNOVO, die unter anderem die Cloud-Basis für die German Edge Cloud und ein Gegengewicht zu amerikanischen Cloud-Anbietern darstellt. Hier gilt europäisches Recht und die Daten bleiben in Europa.
Das Thema Digitalisierung geht nicht ohne entsprechende Software. Allen voran die Lösungen von EPLAN, sei es Electric P8 für das Zeichnen eines Sprunglaufplans oder ProPanel, das Fertigungsinformationen liefert. Das geht bis hin zur Kollisionsanalyse: Diese zeigt mir an, ob beispielsweise ein Leistungsschalter mit den Einbauten in der Tür beim Zumachen der Tür kollidiert. Alle Zeichnungen sind hier in 3D vorhanden. Warum haben wir die Umstellung auf TS 8, VX oder AX gemacht? Weil wir diese Daten für ProPanel brauchen, die im sogenannten Data-Portal, das von EPLAN gehostet wird, liegen. Jeder Hersteller, wie z.B. ABB, Siemens, Phoenix, Weidmüller, Beckhoff kann seine 3D-Daten in dieses Portal hineinstellen und der Schaltanlagenbauer holt sich von dort die 3D-Modelle, konfiguriert das über ProPanel und hat einen fixfertigen Schaltschrank im 3D-Aufbau. Dort hat er auch gleich eine Stückliste, die er über eine entsprechende Schnittstelle in sein ERP-Programm spielen kann. Auf Knopfdruck geht die Bestellung über eine EDI-Verbindung idealerweise zu Rittal, wo vollautomatisiert verarbeitet und dann die Ware verschickt wird.
Überdies haben wir mit dem Rittal Configuration System einen Konfigurator für unsere Kunden entwickelt. Hier kann der Kunde auf einer Web-oberfläche in 3D-Darstellung Gehäuse und Schränke mit dem passenden Zubehör konfigurieren. Ist der Kunde mit seiner Konstruktion fertig, hat er zwei Möglichkeiten: Entweder er bestellt den konfigurierten Schrank über den My-Rittal-Onlineshop oder er überträgt das File an unseren Innendienst und dieser schickt es an die CNC-gesteuerte Bohr- und Fräscenter (Anm. CNC steht für Computerized Numerical Control und bezeichnet programmierbare, rechnergesteuerte Werkzeugmaschinen). Diese gehören zu Rittal Automation Systems (RAS), wo es Bohr- und Fräsmaschinen sowie mit Lasertechnik arbeitende Maschinen gibt. Mit den Daten aus dem Konfigurator, aus ProPanel oder EPLAN kann man diese Maschine direkt ansteuern und die Bearbeitungen an den Gehäusen etc. vornehmen lassen. Damit haben wir eine unterbrechungsfreie, durchgängige Wertschöpfungskette.
Gibt es bei dieser beachtlichen Vollautomatisierung noch Verbesserungspotenzial für die Zukunft?
Die Automatisierung reicht weiter hinein in das Thema Draht ablängen und Drahtaderendhülsen crimpen und beschriften, wofür wir unser Wire-Terminal einsetzen. Mit der Schwesterfirma EPLAN bieten wir auch Smart Wiring an. Hier gibt es Bildschirme mit Touchfunktion, mit denen auch jene, die keine Experten in diesen Dingen sind, sehr einfach solche Fachtätigkeiten durchführen können.
Dann ist auch das sehr aufwändige Thema Stammdatenpflege zu nennen. Die Daten der Firmen liegen in teilweise unterschiedlichen Formaten vor. Das kann man über die Data-Portal-Schnittstelle optimieren, indem man mit anderen Herstellern Standards zu schaffen versucht. Ferner hat das Thema kollaborative Robotic im Schaltschrankbau sicher auch noch Entwicklungspotenzial, wo ich gewisse Tätigkeiten auf den Kollegen Roboter übertrage.
Letztendlich ist IIoT und Fernwartung und Fernanalyse ein Thema. Früher, wenn Maschinen in Brasilien, Afrika oder Asien ein gröberes Problem hatten, ist ein Servicetechniker ins Flugzeug gestiegen und hat das an Ort und Stelle repariert. Heute in Pandemiezeiten haben wir Reiseverbot. Hier wird das Thema Internet-of-Industry immer wichtiger. Es gibt in unserem Familienverband das voriges Jahr gekaufte Startup-Unternehmen IoTOS. IoTOS beschäftigt sich explizit mit Themen, wie ich vor Ort über IoT-Schnittstellen die Daten austauschen bzw. wie ich mit einer KI-gestützten Früherkennung ein Wartungsfenster voraus berechnen kann, in dem ich die Wartungen an den Geräten durchführe. Da wird sich sicher in den nächsten Jahren noch einiges tun.
Wie sieht es bei Rittal hinsichtlich Standardisierung aus?
Wir versuchen unsere Produktlinien so breit aufzustellen, wie es weltweit notwendig ist, aber so schmal zu halten, dass wir nicht eine unzählige Vielfalt von Abmessungen und Varianten anbieten müssen. Zudem wollen wir den Kunden vermitteln, dass es kein günstigeres Gehäuse gibt als das Standardprodukt. Modifikationen kann er über den vorhin beschriebenen Weg vornehmen. Auch unsere Kunden wollen Sonderlösungen, haben aber auch lernen müssen, dass ihre Kunden unter Umständen dafür gar nicht mehr bezahlen.
Wenn wir beim Thema Standardisierung von IEC-Standards sprechen, dann sind unsere Kollegen vom Headquarter natürlich in den Normenausschüssen tätig und arbeiten mit.
Ist der Fachkräftemangel bei Ihnen auch ein Thema?
In der österreichischen Niederlassung ist der Fachkräftemangel kein allzu großes Thema, wir haben Gott sei Dank eine sehr, sehr geringe Fluktuation. Aber einen guten Industrieverkäufer im Außendienst zu finden, ist schwierig. Wir versuchen Leute aus dem Innendienst für die Außendiensttätigkeit zu begeistern und mittelfristig heranzubilden. Wir unterstützen gemeinsam mit der Firma EPLAN Schulen mit verschiedenen Projekten, wodurch die Schüler Rittal und EPLAN kennenlernen. Sonst helfen wir unseren Kunden mit unseren Softwarelösungen, mit dem Konfigurator, mit dem Smart Wiring usw., mit denen diese auch ohne Facharbeiter ihre Produkte und ihre Lösungen fertig machen können.
Gibt es länderspezifische Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland? Gibt es Unterschiede zwischen den Märkten?
Wir haben weltweit 54 Tochtergesellschaften in unterschiedlichen Reifegraden und Größen. Der deutsche und der österreichische Markt sind ähnlich, wobei wir in Österreich von der Kundenstruktur viel mehr Sonderanlagenbauer haben. Die Kollegen in Deutschland haben wiederum eher die sehr großen Maschinenbauer, die Standardmaschinenbauer, wie DMG MORI oder Trumpf. Für uns in Österreich bedeutet das, dass wir viel flexibler agieren müssen. Wir haben nicht diese großen Mengen an Seriengehäusen, wir müssen oft adaptierte Gehäuse anbieten. Natürlich hat jedes Land seine Chrakteristika: Die Niederlande unterscheiden sich beispielsweise von Österreich dahingehend, dass sie sehr wenig Maschinenbau, aber mehr IT-Anwendungen haben. Italien ist ein Land, wo sehr viele Maschinen für Lebensmittelproduktion hergestellt werden, weswegen dort ein erhöhter Bedarf an Edelstahlgehäusen besteht. Das weltweite Rittal-Portfolio kann in der ganzen Welt eingesetzt werden, zumal wir ja auch alle Applikationen und Approbationen haben.
Sind weitere Akquisitionen geplant?
Das Thema M&A – Mergers & Acquisitions – ist ein Thema des Headquarters. Rittal ist immer interessiert, ergänzende Unternehmen zu erwerben. Wir erweben aber keinen Mitbewerber, um ein bisschen Marktanteil dazu zu kaufen. Das bringt uns langfristig nicht weiter.
Was waren die größten Meilensteine in den letzten zehn Jahren unter Ihrer Führung und wo wollen Sie Schwerpunkte für die Zukunft setzen?
Ich hatte den Vorteil, dass ich aus dem Unternehmen gekommen bin. Ich war 15 Jahre lang Verkaufsleiter und Prokurist und kannte das Unternehmen, die Menschen im Unternehmen, die Produkte, die Märkte, die Kunden sehr gut. Ein großer Meilenstein war im Jahr 2015 die Änderung der internen Organisation. Früher hatten wir eine 1:1-Zugehörigkeit – ein Kunde, ein Außendienst-, ein Innendiensttechniker, ein Innendienstsachbearbeiter und wir haben bemerkt, dass das zu sehr stark unterschiedlichen Belastungen und Auslastungen geführt hat. Hätten wir das so belassen, wären die Personalkosten im Verhältnis zum Umsatzwachstum aus dem Ruder gelaufen. Die Umsetzung erfolgte professionell und mit einer sehr großen Akzeptanz und Zufriedenheit unserer Mitarbeitenden.
Natürlich muss ich auch bei mir im Unternehmen bei den Mitarbeitenden darauf achten, dass ich sie auf diese digitale Reise mitnehme und nicht irgendwo verliere. Das ist sicher heute mehr denn je eine Herausforderung, weil unser Produktportfolio massiv gewachsen ist. Vor zehn Jahren haben wir im Wesentlichen tolle Produkte gehabt, die aufeinander abgestimmt waren. Dann sind wir übergegangen Systeme zu verkaufen und heute verkaufen wir zuätzlich zum bekannten Programm Investitionsgüter wie das Wire Terminal, wie die Bearbeitungsmaschinen, wo wir auch in dem ganzen Prozess der Fertigung beim Kunden Input geben. Parallel haben wir ja auch eine sehr leistungsfähige IT-Infrastrukturabteilung, die schlüsselfertige Container-Rechenzentren beim Kunden hinstellen kann. Und dieser IT-Infrastrukturbereich muss natürlich mit dem Industriebereich Hand in Hand gehen, denn sehr viele Kunden, die diese Containerlösungen brauchen, sind produzierende Industriekunden.
Wir wissen heute in dieser Pandemiezeit weniger über die Zukunft denn je. Kommt noch eine zweite Welle? Wie stark geht es nach unten? Wie lange bleiben wir da unten? Diese Fragen haben wir uns 2009 auch gestellt. Damals war das eine ganz andere Art von Krise, als wir sie jetzt haben. Diese Pandemie kann natürlich, davon bin ich überzeugt, eine Riesenchance für die Unternehmen sein, die strategisch gut aufgestellt sind, die vorher ihre Hausübungen gemacht haben, die sich jetzt auf das Wesentliche, nämlich auf neue Märkte konzentrieren können und aus einer Stärke heraus agieren.
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