Digitalisierung: „Ändern oder Untergehen“

In kaum einen anderen Wirtschaftszweig zeigen sich die Vorteile und Risiken der digitalen Transformation deutlicher als in der Industrie. Neben Einführung neuer Lösungen braucht es ein radikales Umdenken, sonst drohen Verluste in Milliardenhöhe. [...]

Das dramtische Motto „Ändern oder untergehen“ stellt A.T. Kearney seiner Studie „Eine Begegnung mit der Wertschöpfung von morgen“ voran. Die Berater haben rund 100 Entscheider in Deutschland aus der Automobil-, Maschinenbau- und Elektroindustrie befragt. Fazit: Jeder Zweite fühlt sich vom digitalen Wandel in seiner Existenz bedroht.

Dieses Bedrohungsgefühl konkretisiert sich in der Angst vor Konkurrenz aus ursprünglich fremden Branchen. Beispiel Google: Das Unternehmen, das mit einer Suchmaschine startete, schickt selbstfahrende Autos auf die Straßen. Die Studienteilnehmer äußern zudem die Angst, dass sich ganze Industrien auflösen werden. Die Consultants leiten aus den Studienergebnissen folgende fünf Thesen ab:

1. Digitalisierung sprengt Industriegrenzen

Konkurrenz kommt von branchenfremden, jungen Unternehmen mit hohem Verständnis für die Digitalisierung, so A.T. Kearney. Der Ruf scheint Gehör zu finden: 35 Prozent der Befragten wollen binnen fünf Jahren in „neue Industrien“ eintreten. Langfristig planen 43 Prozent diesen Schritt. Eine Minderheit von vier Prozent der etablierten Unternehmen gibt an, sich „sehr gut auf den Wandel vorbereitet“ zu sehen.

2. Neue Führungsherausforderungen

„Unternehmen spiegeln ihre Anforderungen teilweise zu stark an dem bisher Erreichten der zukünftigen Manager“, sagt Michael Ensser, Managing Partner der Personalberatung Egon Zehnder. Die wachsende Komplexität der Arbeit eines Top-Entscheiders und die disruptiven Entwicklungen des Business verlangten aber andere Kriterien. Personaler müssen daher das Potenzial eines Kandidaten besser einschätzen können.

3. Kooperation statt Konkurrenz als Erfolgsmotto

Wettbewerbsvorteile generieren Unternehmen künftig nur durch die Zusammenarbeit mit Zulieferern, Kunden und Wettbewerbern, erklärt A.T. Kearney. Noch bezeichnen jedoch erst 54 Prozent der Befragten gemeinsame Innovationen mit Zulieferern als Teil ihrer Strategie. 61 Prozent kooperieren „gar nicht eng“ mit Wettbewerbern. Modellhaft für das Zusammenwirken echter Konkurrenten sind Audi, BMW und Daimler: Die Autobauer haben gemeinsam den Kartendienst Here übernommen. Johannes Reifenrath, Leiter Produktstrategie und -planung bei Mercedes Benz Cars, sieht die nächsten Player schon am Horizont: Gigantische chinesische Telekommunikationsunternehmen mit hunderten Millionen treuer Kunden hätten genug Geld und Energie, jederzeit ins Automobilgeschäft einzusteigen und den Markt ordentlich durchzumischen.

4. In den Fabriken arbeiten kaum noch Menschen

Die Digitalisierung gefährdet 2,7 Millionen Arbeitsplätze in produzierenden Berufen in Deutschland, hat A.T. Kearney ausgerechnet. Das entspricht 42 Prozent. Die menschenleere Fabrik sei künftig keine Ausnahme mehr, sondern die Regel.

In Sachen Fertigung greifen die Berater auch den 3D-Druck auf. Diesem sagen sie einen Siegeszug voraus. Wird für 2010 ein Kostenindex von 100 Prozent zugrunde gelegt, sinkt dieser 2020 auf 53 Prozent und 2030 auf 28 Prozent. General Electrics schätzt, dass bis 2022 fast jedes zweite Teil für Turbinen und Flugzeugtriebwerke aus 3D-Druckern stammen wird.

5. Unternehmen müssen lernen, schneller zu planen

Johan Aurik, Managing Partner und Chairman of the Board bei A.T. Kearney, rät Unternehmenslenkern, verschiedene Szenarien durchzuspielen, um sich strategisch für den Wandel zu rüsten. Außerdem plädiert er für mehr Diversity innerhalb deutscher Vorstände. Aurik: „Man braucht andere Leute, die das eigene Denken infragestellen.“ Hier sei die Zusammenarbeit mit Startups sinnvoll, die frischen Wind in die oberen Etagen bringen können.

DIE SUCHE NACH EUROPÄISCHEN STANDARDS

Was passiert, wenn der Digitalisierungszug versäumt wird? Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) schätzt die Einbußen industrieller Wertschöpfung in Deutschland auf insgesamt 220 Milliarden Euro bis zum Jahr 2025, so die Studie „Die digitale Transformation der Industrie“. Betroffen wären insbesondere die Automobil- und Logistikindustrie, die bis zu 140 Milliarden Euro an Bruttowertschöpfung verlieren könnten.

Sollte die europäische Industrie die digitale Transformation verpassen, stehen in den nächsten Jahren insgesamt 605 Milliarden Euro auf dem Spiel. Dieser mögliche Verlust ergibt sich aus dem kontinuierlichen IKT-Anstieg in der Bruttowertschöpfung: Allein in der Automobil- und Logistikbranche dürfte er bis 2025 um 15 bzw. 18 Prozentpunkte steigen, unterstreicht die BDI-Studie.

Der Eintritt dieser Negativszenarien ließe sich verhindern, wenn es gelingt, den europäischen Gestaltungseinfluss auf die Standardisierung der digitalen Ökonomie auszubauen. Standards sind nötig, um Interoperabilität und Skaleneffekte zu erzeugen. Falsche Standards setzen hingegen die Margen unter Druck und gefährden die Wettbewerbsvorteile der deutschen und europäischen Industrie. Das gilt zum Beispiel für das Fertigungs-Knowhow vieler produzierender Unternehmen, das in Embedded Software überführt wurde. Zu enge oder zu einfache Standards können dazu führen, dass dieser Vorteil nicht mehr wirksam wird, zum Beispiel weil sich wichtige Rahmenbedingungen für eingebettete Programme verändert haben und qualifizierte Einzellösungen nicht mehr realisierbar sind.

POLITISCHE RAHMENBEDINGUNGEN

Mit der Digitalisierung ist auch die Politik gefragter denn je, um geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. „Wenn man sich die pwc-Studie über Industrie 4.0 in Österreich ansieht, so ist der Großteil der von den Industrieunternehmen genannten Roadblocker direkt oder indirekt auf die Politik zurückzuführen“, sagt Georg Krause, Managing Partner von Public Interest Consultants und Mitglied der Internetinitiative Österreich im Gespräch mit der COMPUTERWELT am Rande der CIO Tage in Geras. Weitere Stimmen zu den politischen Rahmenbedingungen in Österreich lesen Sie auf den Seiten 16 und 18 in dieser Ausgabe.
 
Ein ähnliches Bild zeigt sich in Deutschland. Laut der oben erwähnten BDI-Studie glauben nur 3,4 Prozent der befragten Firmen, dass die Politik über ausreichende Kompetenzen in diesem Bereich verfügt und die notwendigen Impulse setzt. Die größten Digitalisierungshemmnisse werden in den Bereichen Datenschutz, Outsourcing und Cloud sowie bei den Themen Verantwortung, Zurechnung und Versicherbarkeit bei autonomen Systemen gesehen, so die ebenfalls von BDI erstellte Studie „Industrie 4.0 – Rechtliche Herausforderungen der Digitalisierung“.

Unterm Strich: Die Politik ist massiv gefordert, die Zeichen der Zeit zu erkennen und rasch Maßnahmen zu setzen. Sonst gilt das eingangs erwähnte Motto auch hier: „Ändern oder untergehen“. (wf)


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