Entwicklungskosten explodieren

Die zunehmende Digitalisierung der Produkte steigert auch die Entwicklungskosten. Damit die eigene Entwicklung kein unbezahlbarer Luxus wird, müssen neue Abläufe implementiert werden. Product Line Engineering und die intelligente Unterstützung durch Software spielen dabei eine Schlüsselrolle. [...]

Digitalisierung ist wichtig, aber auch teuer. (c) Pixabay

Am Beispiel der Automobilindustrie zeigt sich: Digitalisierung ist wichtig, aber auch teuer. Laut einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung Berylls Strategy Advisors nimmt die Bedeutung der Fahrzeugelektronik und -software weiter zu. Im Jahr 2019 hat die gesamte Automobilindustrie 140 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung investiert. Davon entfiel ein Drittel auf die Elektronik und Software der Autos. Bis zum Jahr 2040 wird deren Anteil auf etwa 40 Prozent ansteigen. Gründe hierfür gibt es viele. Ein Faktor ist der große Umbruch hin zu neuartigen Antrieben. Vieles ist für die traditionellen Hersteller, die über Jahrzehnte mit Verbrennungsmotoren ihr Geld verdient haben, dabei Neuland. Nun sind Innovationen gefragt. Das Problem ist jedoch, dass die bisherigen Methoden der Produktentwicklung an ihre Grenzen stoßen. Komplexe Systeme mit einem hohen Anteil an Software und neue Produktanforderungen wie kontinuierliche Over-the-air-Updates über den gesamten Lebenszyklus eines Autos, stellen die Entwicklungsabteilungen vor grundlegend neue Herausforderungen. Hier müssen Methoden und Prozesse gänzlich überdacht und neu implementiert werden.

Was für die Automobilindustrie gilt, gilt auch für nahezu alle anderen Bereiche und Unternehmen. Die Nachfrage sowie der öffentliche Druck, innovative und nachhaltige Produkte anzubieten, sind in fast allen Branchen groß. Doch die Entwicklungsabteilungen haben in der Regel wenig Zeit, sich mit neuartigen Lösungen zu beschäftigen. Das gilt nicht zuletzt dort, wo bereits viele Produktvarianten gepflegt werden müssen. Oftmals sind die Entwicklungsabteilungen damit ausgelastet, Pflichtaufgaben zu erfüllen und die historisch gewachsenen Systeme zu pflegen. Anfragen, ob eine neue Produktvariante hergestellt werden kann oder nicht, nehmen die eh schon knappen Kapazitäten in Anspruch und können aufgrund der veralteten Methoden mitunter erst nach Monaten beantwortet werden. Dabei würde derselbe Prozess mit einer Softwarelösung, die die Vorzüge von Product Line Engineering (PLE) nutzt, lediglich ein bis zwei Wochen dauern. Für größere Unternehmen bedeutet das, dass sie allein durch diese Zeitersparnis bereits Millionen-Beträge einsparen könnten.

Excel-Tabellen führen zu Fehlern

PLE ist eine effektive Entwicklungsmethode, um die steigende Komplexität zu beherrschen und die Vorteile der systematischen Wiederverwendung zu nutzen. Die Kombination aus PLE-Methodik und einer spezialisierten Software-Lösung zur Verwaltung von Produktlinien hilft Unternehmen dabei, die Entwicklungskosten dauerhaft fest im Griff zu behalten. Dass diese Art der Produktentwicklung darüber hinaus auch noch wesentlich mehr Sicherheit bietet, ist mehr als nur ein Nebeneffekt. Doch diese Erkenntnisse ist noch nicht in allen Entwicklungsabteilungen angekommen.

»In vielen Unternehmen werden unterschiedliche Systeme genutzt, um neue Produkte und Varianten zu entwickeln«, sagt Danilo Beuche, der sich bereits seit den 90er-Jahren mit PLE beschäftigt. »Nicht selten kommen dabei weiterhin Excel-Tabellen zum Einsatz, die manuell gepflegt werden«, berichtet der Honorarprofessor der Universität Leipzig und Mitbegründer des Softwareunternehmens pure-systems. »Das ist äußerst zeitintensiv und führt dort, wo viele Produktvarianten gemanagt werden müssen, früher oder später zwangsläufig zu Fehlern.« Hinzu kommt, dass sich das Unternehmen abhängig macht von den Mitarbeitern, die diese Systeme pflegen. Denn ohne deren Insider-Wissen ist es oftmals schwierig bis unmöglich, die Produktentwicklung und -pflege weiterzuführen.

Dass die Variabilität moderner Produkte immer mehr durch rein Software-basierte Funktionen bestimmt wird, stellt die bisherigen Methoden vor zusätzliche Herausforderungen. Oft sind in den Unternehmen selbstgebaute Lösungen im Einsatz, die der Komplexität nicht gewachsen sind beziehungsweise nur in einem Silo funktionieren. Die Software-Konfiguration, die Hardware-Konfiguration sowie die Spezifikationen und Anforderungen werden isoliert betrachtet beziehungsweise mit unterschiedlichen Konzepten gemanagt. »Richtig gemacht, bildet PLE hier das verbindende Glied, da es die Konfiguration und Variabilität durchgängig verbindet und auf eine einheitliche Basis stellt«, erklärt Beuche.

Neben den Verwaltungskosten ist es wichtig, auch die Herstellungskosten zu reduzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten möglichst viele Teile und Materialen wiederverwendet werden. Das hat zudem den positiven Effekt, dass die Produktion nachhaltiger wird. Nicht wenige Unternehmen stehen zudem vor der Herausforderung, dass sich ihre Kunden Produkte mit smarten Features wünschen. Das gilt für Autos ebenso wie für Uhren, Küchenmaschinen oder Getränkeautomaten. Je smarter und komplexer die einzelnen Produkte sind, desto schneller schleichen sich ohne entsprechende Tools Fehler ein. Das gilt vor allem dort, wo das Wissen im Unternehmen weit verstreut ist.

»Allein schon für die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Abteilungen mit ihren verschiedenen Blickwinkeln und Terminologien ist eine Softwarelösung für professionelles Varianten-Management wichtig«, erläutert Beuche. So kann abteilungsübergreifend umgehend geklärt werden, welche Features mit welcher Produktvariante möglich sind. Zudem lässt sich feststellen, wo und wie Materialen und Ressourcen besser genutzt und im Idealfall wiederverwendet werden können.

Die meisten Unternehmen aus der Automobil- und Luftfahrtindustrie nutzen schon seit längerem entsprechende Softwarelösungen um die Entwicklungskosten zu senken und freie Kapazitäten für Innovationen zu schaffen. Innovative Köpfe, die sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können, sind nicht zuletzt auch deshalb wichtig, weil die Autohersteller Bauteile zunehmend selbst produzieren. Der Anteil an Elektrofahrzeugen wird Prognosen zufolge bis 2030 weltweit auf 23 Prozent und in Europa sogar auf 32 Prozent wachsen. Beim Kampf um Marktanteile geht der Trend dabei hin zu mehr Eigenentwicklungen. So werden bei E-Antrieben bereits im Jahr 2025 weltweit 50 Prozent der Wertschöpfung von den Herstellern selbst oder in Joint Ventures produziert.

Mit der Entwicklung bleibt die Kontrolle im Unternehmen

Letztlich wird dadurch auch der Kampf um Fachkräfte und innovative Köpfe weiter angefacht. »Der War for Talents für das Fahrzeug der Zukunft wird sich weiter verschärfen, da nicht mehr nur die großen Tech-Unternehmen wie Google oder Facebook auf Softwareentwickler angewiesen sind, sondern Autobauer mehr und mehr Ingenieure dieses Fachbereichs benötigen«, warnen die Unternehmensberater von AlixPartners. 

In vielen anderen Branchen herrschen mittlerweile ähnliche Umstände, wie eine aktuelle Bitkom-Studie zeigt. Demnach bemerken knapp 70 Prozent aller befragten Unternehmen aus sämtlichen Branchen zurzeit einen Mangel an IT-Experten. Auch deshalb ist es für nahezu alle großen und mittelständische Unternehmen wichtig, auf zeitgemäße Lösungen umzustellen. Denn nur so schafft man attraktive Arbeitsplätze, in denen sich die besten Talente und Mitarbeiter wohlfühlen und sich auf ihre Kompetenzen und kreative Arbeit konzentrieren können.

Darüber hinaus stellt Bitkom-Präsident Achim Berg fest, dass die Corona-Krise in allen Branchen Defizite bei der Digitalisierung aufgezeigt und einen Digitalisierungsschub ausgelöst hat. »Gerade während der Krise entscheidet sich, welche Unternehmen sich erfolgreich für die digitale Zukunft aufstellen können«, so Berg. Vor allem für Unternehmen, die Produktvarianten mit einem hohen Software-Anteil entwickeln und produzieren, ist ein moderner PLE-Ansatz deshalb unverzichtbar geworden. Das gilt nicht zuletzt auch für die Verwaltung neuer Teile – von der Teileverwaltung im ERP-System über die Lagerhaltung bis hin zur Beschaffung – die schnell zu gigantischen Folgekosten führen kann. Somit zahlt es sich in mehrfacher Weise aus, wenn bereits in der Entwicklung in Baukästen gedacht wird und einzelne Komponenten so intelligent entwickelt werden, dass sie in den verschiedenen Produktvarianten verwendet werden können. Möglich ist dies mit modernen PLE-Lösungen. So spart man als Unternehmen bei den Entwicklungskosten und behält selbst bei komplexen Prozessen und zahlreichen Produktvarianten stets den Überblick.


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