Erstes digitales Modell einer Krebszelle

Ein Computermodell, federführend von Forschenden der TU Graz entwickelt, simuliert die zyklischen Veränderungen des Membranpotenzials einer Krebszelle am Beispiel des menschlichen Lungenadenokarzinoms und eröffnet damit völlig neue Wege in der Krebsforschung. [...]

Sonja Langthaler, Christian Baumgartner und Theresa Rienmüller, alle vom Institut für Health Care Engineering der TU Graz. (c) Lunghammer – TU Graz
Sonja Langthaler, Christian Baumgartner und Theresa Rienmüller, alle vom Institut für Health Care Engineering der TU Graz. (c) Lunghammer – TU Graz

Computermodelle gehören seit vielen Jahren zu Standardwerkzeugen in der biomedizinischen Grundlagenforschung. Doch erst rund 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung eines Ionenstrommodells einer Nervenzelle durch Hodgkin & Huxley im Jahr 1952 ist es Forscherinnen und Forschern der TU Graz unter Mitwirkung der Medizinischen Universität Graz und des Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York gelungen, das weltweit erste Krebszellmodell zu erarbeiten und damit ein „essentielles Werkzeug für die moderne Krebsforschung und Medikamentenentwicklung auf den Weg zu bringen“, sagt Christian Baumgartner, Leiter des Instituts für Health Care Engineering mit Europaprüfstelle für Medizinprodukte der TU Graz.

Digitale Zellmodelle fokussierten bisher auf erregbare Zellen wie etwa Nerven- oder Herzmuskelzellen und ermöglichen die Simulation elektrophysiologischer Vorgänge nicht nur auf zellulärer, sondern auch auf Gewebs- und Organebene. Diese Modelle werden zur Diagnoseunterstützung und Therapiebegleitung im klinischen Alltag bereits eingesetzt. Das internationale Forschungsteam rund um Baumgartner legte das Augenmerk nun erstmals auf die spezifischen elektrophysiologischen Eigenschaften nicht-erregbarer Krebszellen.

In erregbaren Zellen löst ein elektrischer Stimulus sogenannte Aktionspotenziale aus. Das führt zu kurzzeitigen, Millisekunden dauernden elektrischen Potenzialänderungen an der Zellmembran, die „elektrische“ Informationen von Zelle zu Zelle weiterleiten.“Im Vergleich zu erregbaren Zellen erfolgen die Potenzial-änderungen bei nicht-erregbaren Krebszellen sehr langsam und über den gesamten Zellzyklus hinweg, also über Stunden und Tage, und dienen als Signal für den Übergang zwischen den einzelnen Zellzyklusphasen“, erklärt Baumgartner. Gemeinsam mit der stellvertretenden Institutsleiterin Theresa Rienmüller und der Doktorandin Sonja Langthaler verfolgte er als erster die Idee, ein entsprechende Simulationsmodell zu entwickeln.

Für ihr digitales Krebszellenmodell wählte das Team das Beispiel der menschlichen Lungenadenokarzinom-Zelllinie A549. Das Computermodell simuliert die rhythmische Schwingung des Membranpotenzials während des Überganges zwischen den einzelnen Zellzyklusphasen und ermöglicht die Vorhersage, welche Membranpotenzialänderungen durch ein medikamentöses Ein- und Ausschalten ausgewählter Ionenkanälen verursacht werden. „Wir bekommen also Auskunft über die Auswirkungen gezielter Eingriffe auf die Krebszelle“, ergänzt Baumgartner.

Wenn man nun Ionenkanäle gezielt manipuliert, wie durch neue, erfolgsversprechende Wirkstoffe und Medikamente, kann man die Zellmembranspannung und damit das gesamte elektrophysiologische System sozusagen aus der Spur werfen. „Damit ließen sich Krebszellen in einer bestimmten Zellzyklusphase festhalten, aber auch vorzeitig in den Zelltod schicken. Und genau solche Mechanismen lassen sich mithilfe von Modellen simulieren.“

Baumgartner und sein Team sehen das erste digitale Krebszellenmodell als den Beginn umfassenderer Forschungen. Um den Detailgrad des Modells zu erhöhen, sind weitere experimentelle und messtechnische Validierungen geplant.


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