Eine aktuelle Studie von Roland Berger bescheinigt Europa eine dynamische KI-Szene. Es könnte jedoch deutlich besser laufen – vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen verbessern sich. Die COMPUTERWELT hat sich einige Aspekte der Studie näher angesehen. [...]
Im Jahr 2018 hat Roland Berger in der Studie »Joining the dots – A map of Europe‘s AI ecosystem« die Tatsache hervorgehoben, dass das europäische KI-Ökosystem zwar stark, aber auch wegen dem Fehlen einer umfassenden Strategie sehr fragmentiert ist. Im letzten Jahr kamen die Autoren der Studie »The road to AI – Investment dynamics in the European ecosystem« zu dem Schluss, dass der Zugang zu Kapital der Schlüssel zur Integration des europäischen KI-Ökosystems sein wird. Für die heurige Ausgabe (»The road to AI – Investment dynamics in the European ecosystem«) haben sich die Experten von Roland Berger unter anderem die Faktoren Investitionsbereitschaft und Innovationskraft der EU, von Norwegen und Israel sowie der Schweiz seit 2009 unter die Lupe genommen.
Eine zentrale Erkenntnis: Auf Frankreich, Großbritannien, Israel und Deutschland entfielen in den letzten zehn Jahren rund 80 Prozent aller Investitionen in KI-Startups. Betrachtet man das vorangegangene Jahr, so liegt Deutschland mit rund 510 Millionen Dollar auf dem vierten Platz hinter Frankreich (1,3 Milliarden Dollar), Großbritannien (1,2 Milliarden) und Israel (902 Millionen). In Unternehmenszahlen: In Deutschland wurden 2019 218 KI-Neugründungen finanziert. Damit liegt der Nachbar im europäischen KI-Ökosystem auf dem dritten Platz – hinter Großbritannien (590 Startups) und Frankreich (235 Startups).
Der Roland Berger-Studie ist nicht zu entnehmen, wie die Autoren KI-Firmen definieren. Das ist insofern wichtig, als MMC Ventures 2019 eine Studie herausgegeben hat, in der die Londoner Investmentfirma 2.830 europäische Startups untersucht hat, die als »KI-Firmen« klassifiziert werden. Nur 1.580 davon würden aber tatsächlich auch KI einsetzen. »Der Rest führe Investoren aber nicht zwangsläufig in die Irre, sondern sei möglicherweise von anderen fehlklassifiziert worden. Teilweise werde das aber nicht richtiggestellt, möglicherweise weil KI-Unternehmen mit höheren Investments rechnen könnten«, so MMC.
KI im Gesundheitswesen
Unter den branchenspezifischen Anwendungen von KI sind laut Roland Berger besonders europäische Startups in den Bereichen Gesundheitswesen und Biotechnologie hervorzuheben. Der Anstieg um vier Prozentpunkte gegenüber 2018 spiegelt den weltweit zunehmenden Einsatz von KI zur Verbesserung der Wirkstoffentwicklung, Diagnostik sowie Patientenüberwachung und -versorgung wider. Die Gesamtinvestitionen des öffentlichen und privaten Sektors in KI im Gesundheitswesen werden voraussichtlich bis 2025 6,6 Mrd. USD erreichen.
Eine Analyse des International Journal of Computer Vision – des am häufigsten zitierten europäischen KI-Journals – zwischen 2015 und 2019 zeigt die Stärke der europäischen KI-Ökosysteme in Bezug auf Forschung und Entwicklung. Die in Großbritannien, Frankreich und Deutschland ansässigen Institutionen stellen zwei Drittel der in der Zeitschrift vorgestellten Institutionen dar, was ihre etablierten und ausgereiften KI-Ökosysteme veranschaulicht. Auch bei den Patentanmeldungen sind diese drei Länder führend: 52 Prozent aller europäischen KI-Patente sind von dort.
Politische Empfehlungen: ehrgeizige Strategie und Förderungen
Die Studie von Roland Berger zeigt, dass Europa das Potenzial hat, bei Innovationen eine weltweit führende Rolle einzunehmen – vorausgesetzt, die europäischen Institutionen entwickeln eine neue und ehrgeizige Strategie und fördern KI-freundliche Vorgaben. Europa wird nur dann in der Lage sein, seine neuen KI-Standards global voranzutreiben, wenn seine ethischen Ambitionen mit den Bemühungen verbunden sind, eine erstklassige KI-Industrie über den gesamten EU-Raum zu stärken.
Roland Berger empfiehlt einen Drei-Säulen-Ansatz, der auf Finanzierung, Talent und Regulierung basiert. Zu den Maßnahmen im Bereich Finanzierung gehört etwa die Förderung grenzüberschreitender Investitionen. Zudem sollte der steuerliche Rahmen für Risikokapital in der gesamten EU standardisiert werden, um Kapital innerhalb und außerhalb der Union zu mobilisieren und Doppelbesteuerung zu vermeiden. Die EU-Institutionen sollten außerdem den Zugang zu grenzüberschreitendem Crowdfunding erleichtern, das bei Kapitalinvestitionen eine wichtige Rolle spielt.
Talente folgen dem Kapital
Was Talente betrifft, so empfiehlt Roland Berger eine ganzheitliche Strategie, in der das Niveau der akademischen Einrichtungen ausgebaut wird, zudem verhindert wird, dass die europäische Talente angesichts des »Brain Drain« den Kontinent verlassen, und ausländische Experten angezogen werden. Zu den Maßnahmen in diesem Bereich gehört die Vereinfachung der komplexen Einstellungsprozesse und begrenzten Arbeitserlaubnisse, die von Land zu Land unterschiedlich sind. Empfohlen wird die Schaffung eines europäischen Startvisums. Angesichts der Initiativen mehrerer EU-Länder (Dänemark, Frankreich, Irland, Italien und Niederlande) zur Gewinnung von Unternehmern würde das mehrjährige Visum das Verwaltungsverfahren für die Einstellung vereinfachen. Bei der universitären Ausbildung in Sachen KI legt Roland Berger einen interdisziplinären Lehrplan nahe, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf angewandter Ethik und Geisteswissenschaften liegen sollte.
Freier Datenfluss
Die dritte Säule beschreibt die rechtlichen Rahmenbedingungen. Angesichts der vielfältigen nationalen KI-Strategien, welche die Fragmentierung des Ökosystems verschärfen, sollte der Kontinent auf die Harmonisierung der europäischen Bemühungen achten. Die europäischen Länder müssen synergetisch arbeiten, um unterschiedliche Stärken und Schwächen bei Patenten, Infrastruktur, Investitionskapazität und Humanressourcen gegenseitig auszugleichen.
Ein weiterer essenzieller Aspekt ist der freie Datenfluss. Denn Barrieren zwischen europäischen Ländern können es Unternehmern erschweren, das Potenzial der KI-Technologie voll auszuschöpfen. Obwohl Daten der Hauptbestandteil von KI-Anwendungen sind, hat sich Europa die strengsten Regeln der Welt für die Verwendung personenbezogener Daten auferlegt, was die tiefgehenden Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes widerspiegelt.
Obwohl die EU die DSGVO eingeführt hat, um die Datenschutzbestimmungen länderübergreifend zu harmonisieren, gibt es in der EU nach wie vor einen Fleckerlteppich unterschiedlicher Auslegungen, inwieweit Unternehmen private und öffentliche Daten verarbeiten können. Darüber hinaus wurde in der Verordnung über den freien Verkehr nicht-personenbezogener Daten zunächst nicht angemessen darauf eingegangen, wie diese mit der DSGVO interagieren würden. Auch die Regelung für nicht-personenbezogene Daten berücksichtigte nicht die Tatsache, dass viele große Datensätze unvermeidlich eine Kombination aus nicht-personenbezogenen und personenbezogenen Daten enthalten. Die jüngste Veröffentlichung praktischer Leitlinien für Unternehmen zur Verarbeitung gemischter Datensätze trägt dazu bei, wie Firmen solche Herausforderungen angehen sollten.
Roland Berger unterstreicht zudem die Wichtigkeit des weltweiten Datenflusses. Um den Datenzugriff zu gewährleisten und es europäischen Startups zu ermöglichen, den Datenfluss insbesondere zwischen Europa und Post-Brexit-Großbritannien sowie mit dem Rest der Welt zu nutzen, müssen europäische Institutionen diesen in allen künftigen internationalen Handelsabkommen garantieren und Ergänzungen zu aktuellen Vereinbarungen realisieren. Das Abkommen zwischen der EU und Japan ist insofern ein Modell, als es den freien und sicheren Fluss personenbezogener Daten zwischen den beiden Partnern ermöglicht. Beide Parteien einigten sich darauf, die Datenschutzsysteme des jeweils anderen als »gleichwertig« anzuerkennen und damit den weltweit größten Bereich sicherer Datenflüsse zu schaffen, so Roland Berger.
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