Industrie 4.0: Auf dem Weg zur Kernkompetenz

Der Hygienespezialist Hagleitner aus Zell am See hat sich von einem reinen Produzenten zu einem Systemanbieter entwickelt. Unterstützung erhält das Unternehmen durch SAP Österreich, das HANA sowie ein Team von Data Scientists bereitstellt. [...]

Echte Pioniere erkennt man unter anderem daran, dass sie über ihre Aktivitäten nicht gerne reden – und schon gar nicht mit Buzzwords jonglieren. Als Hagleitner 2006 begann, seine Industrie-4.0-Lösungen zu entwickeln, war von diesem Begriff noch lange keine Rede. Er wurde erst 2011 im Rahmen der Hannovermesse ein­geführt. Auch heute, acht Jahre ­später, zeigt Gernot Bernert, Hagleitners ­technischer Geschäftsleiter, bei einem Industrie-4.0-Pressegespräch gemeinsam mit SAP wenig Affinität für den aktuellen Hypebegriff: „Es ist für mich ein besonderes Erlebnis, hier zu sein, da ich mit Industrie 4.0 überhaupt nichts am Hut habe.“

Inhaltlich stimmt das so natürlich nicht. Denn laut Christoph Kränkl, Sales Director Portfolio Accounts und verantwortlich für den Bereich Industrie innerhalb der SAP Österreich, erfüllt Hagleitner genau jene Aspekte, die ein Industrie-4.0-Unternehmen auszeichnen. „2020 werden wir zirka 50 Milliarden Devices auf der Erde haben. Technologien wie M2M oder Internet of Things sind keine Zukunftsvisionen, die Themen sind bereits da. Entscheidend ist, dass man mit Industrie 4.0 vom reinen Produktverkauf in völlig neue Geschäftsmodelle kommen kann: Statt Hardwareverkauf Systemverkauf beziehungsweise Anbieten einer Service-Qualität. Diese Veränderung in den Modellen ist das, was Industrie 4.0 in der Ausprägung eigentlich bedeuten kann. Wir verändern die Art und Weise, wie wir Produkte fertigen, wie wir auf das Geschäft schauen. Wir verändern aber auch die Art und Weise, wer unser Mitbewerb ist“, so Kränkl.

Hagleitner hat diesen Prozess durchgemacht. Am Ende der Reise steht quasi die Neuerfindung des Unternehmens: Der Hygienespezialist verkauft heute keine Hygieneprodukte, sondern Hygiene. Was nach dem banalen Ergebnis eines profanen Marketing-Meetings klingt, beschreibt exakt den Kern der Sache: Industrie 4.0 erleichtert es Unternehmen, ihre Kernkompetenz zu verkaufen. Autohersteller verkaufen im Idealfall Fahrspaß oder Sicherheit, ­Möbelproduzenten generieren, wenn sie den Shift geschafft haben, beispielsweise Intelligenz für die eigenen vier Wände. „Damit steigt die produzierende Industrie in der Wertschöpfungskette eine Stufe nach oben“, beschreibt Kränkl die erfreulichen Folgen des Paradigmenwechsels.

VERNETZTE SYSTEME

Der Hintergrund der Entwicklung war typisch für Hochpreisländer: „Als Hardware-Hersteller sind wir in einem Preiskampf, den wir mit einer Lohn­fertigung in Österreich nicht gewinnen können. Das schaffen wir nur durch Systementwicklung“, so Bernert. So hat Hagleitner 2006 begonnen, berührungslose Spender zu entwickeln. „Die brauchen Energie. Daraus ist die Idee entstanden, dass man diese vernetzen kann und dass man daraus lernt, welche Informationen ein Spender in einem Waschraum verraten, beziehungsweise wie man diese nutzen kann.“ Das Ergebnis der gemeinsamen Bemühungen unter der Leitung des Vordenkers Bernert: „Ein Visionspapier mit über 130 strategischen Feldern und Ideen.“

Im Mittelpunkt des Interesses standen vernetzte Systeme, mit denen die Firma Mehrwerte für den Kunden, aber auch für sich selbst schaffen könnte. So haben die Ingenieure beispielsweise Elektroniksysteme weiterentwickelt, eine Add-On-Funkplatine geschaffen, die Spender kommunizieren lassen und den Füllstand des Spenders weitergeben können.

KERNKOMPETENZ
Die Vorteile, die sich aus der Vernetzung der Systeme ergeben, sind mannigfaltig. Ein Pluspunkt liegt auf der Hand: Hagleitner ist stets im Bilde, wie viel von den Hygiene-Produkten wo konsumiert wird. „Wir sind in der Lage, unsere eigene Logistik zu betreiben, die zielgerichtet dort ankommt, wo sie soll.“ Es geht nicht nur darum, den aktuellen Stand zu kennen und im Bedarfsfall darauf zu reagieren, sondern auch um die Möglichkeit, vorauszusagen, wie sich der Verbrauch entwickeln wird. „Stadien oder Messen sind sehr an derartigen Systemen inte­ressiert, weil es die Effizienz maßgeblich und positiv beeinflusst. Wir kennen den Verbrauch und den Bedarf und können zeitnah liefern“, bringt es ­Bernert auf den Punkt.

Ein weiterer Vorteil betrifft die Abrechnungsweise, Beispiel Kindergarten: „Bis jetzt haben wir Hygiene-Produkte verkauft. In Zukunft verrechnen wir in Abstimmung mit dem Kunden einen bestimmten Betrag pro Kind. Hygiene wird von uns einfach zur Verfügung gestellt – natürlich mit der nötigen Transparenz, damit der Kunde genau das bekommt, was er erwartet.“
Mit der Vernetzung kommt zudem der  Knowhow-Aspekt viel stärker ins Spiel als es beim reinen Produktverkauf der Fall ist. Bernert: „Hygiene ist kein Thema, mit dem sich Kunden gerne auseinandersetzen. Das Thema ist auch zu komplex, man müsste Experte sein, um all die Umweltverträglichkeiten und Sicherheitsauflagen zu kennen. Mit unserem vernetzten Modell sind wir in der Lage, Hygiene-Kompetenz zum Kunden zu transportieren. Wir bauen Vertrauen auf, indem wir Hygiene-Knowhow verraten.“ So wird aus einem Produktverkäufer ein Geschäfts- und Lösungspartner auf Augenhöhe.

Hagleitners Vordenker fasst zusammen: „Unsere Entwicklungen waren nicht dazu da, um Industrie 4.0 zu entwickeln, sondern den Bedarf bei unseren Kunden zu identifizieren. Und zu identifizieren, welche Kernkompetenzen wir eigentlich haben.“

Hagleitner hat nicht im Elfenbeinturm entwickelt, sondern in enger Kooperation mit SAP Österreich. „Wir haben entdeckt, dass wir auf unserem Weg mit konventionellen Systemen nicht weiter kommen. Wir haben zum Beispiel in einem Handtuchrollenspender 27 Sensoren platziert, die alle Messwerte liefern. Diese Werte laufen direkt in SAP HANA, mit Schnittstellen zurück an unser ERP-System, mit Verrechnungsdaten und Informationen für unsere Kunden.“ Damit ist Hagleitner im Herzen des Big-Data-Themas, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass die Daten nicht nur für den ursprünglichen Zweck Verwendung finden, sondern eine Zweit- und Drittauswertung liefern. „Wir haben in Kooperation mit SAP Data Scientists auf die Reise geschickt, die Datenmuster identifizieren“, erklärt Gernot Bernert auf Nachfrage der COMPUTERWELT. „Wir sind gerade dabei, in einem Krankenhaus-Umfeld Szenarien zu identifizieren, wie der Hygienestrom ist und wo Infektionen auftreten. Wir können sogar Geschlechterunterschiede beim Händewaschen erkennen und dokumentieren. In der nächsten Generation von vernetzten Geräten werden wir auch steuernd wirken. So gibt es Konzepte, die Zutrittsschleuse zu einem OP erst dann öffnen, wenn davor der ­Desinfektionsspender betätigt wurde“, erklärt Bernert – für einen echten Pionier überraschend redselig. (wf)


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