Industrie 4.0: Was Mitarbeiter können müssen

Die Digitalisierung und Vernetzung der Produktionsabläufe stellt die Mitarbeiter vor neue Herausforderungen. Fach- und firmenübergreifende Zusammenarbeit und mehr Verantwortung des Einzelnen werden die Arbeitswelt bestimmen. [...]

Industrie 4.0 und das Internet halten mit großen Schritten Einzug in die Fabrikhallen. Vergingen von der ersten bis zur zweiten industriellen Revolution noch über hundert Jahre, sind die Innovationszyklen heute deutlich kürzer. Fertigungsunternehmen, die sich am Markt halten wollen, können sich dieser Entwicklung kaum entziehen – ganz im Gegenteil: Innovations- und Kostendruck, Umsatz- und Effizienzsteigerung sowie der Fachkräftemangel zwingen zum Aufrüsten in Sachen Industrie 4.0. Die Veränderungen spielen sich jedoch nicht nur in den Produktionsstätten ab. Das Konzept wird auch die Arbeitsweise vieler Menschen grundlegend verändern.

Das wirtschaftliche Potential für Industrie 4.0 wird enorm hoch eingeschätzt: Eine Studie des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) sieht bis 2025 allein im Maschinen- und Anlagenbau ein zusätzliches Wertschöpfungspotential von 23 Milliarden Euro in Deutschland. Diese Entwicklung wird auch die Arbeitswelt beeinflussen.

Die Experton Group kommt in ihrer Studie „Industrie 4.0“ zu folgendem  Schluss: „Es werden neue, geänderte Aufgaben auf die Mitarbeiter zukommen, bewährte Arbeitsmuster werden sich verändern. Die Nutzung von Mobile Devices und digitalen Informationen wird omnipräsent, situations- und kontextadaptiv sowie augmented und pervasive sein.“

Was heißt das nun genau? Enge Kooperation ist innerhalb der einzelnen Unternehmen und auch fabrikübergreifend stärker gefragt als je zuvor. Denn entscheidend bei der Anpassung, Vernetzung und Digitalisierung der Produktionsprozesse ist die übergreifende Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Abteilungen – gerade wenn diese vorher unabhängig voneinander und mit individuellen IT-Systemen gearbeitet haben – um zum Beispiel auf kurzfristige Änderungen schnell und flexibel reagieren zu können.

Durch den zunehmenden Vernetzungsgrad entstehen Berührungspunkte zwischen CIO und IT-Fachkräften, Fachabteilungen sowie Geschäftsentscheidern, die es zuvor nicht gab. Von der Entwicklungs- bis zur Marketing-Abteilung ist in Zukunft eine enge Abstimmung durch das ganze Unternehmen notwendig.

QUALIFIZIERUNGSNIVEAU AUF HÖHERER EBENE

Die veränderte Kommunikation eröffnet neue Chancen: Um schnelle Lernkurven auszubilden, müssen Mitarbeiter ihre Erfahrungen mit neuen Produkten, Materialien und Technologien abteilungs- und hierarchieübergreifend austauschen und ihr Feedback zur Montage geben können, etwa über Social-Collaboration-Plattformen. So können schnell neue Ideen generiert und umgesetzt werden. Dadurch wird die Produktion auch für den Nachwuchs attraktiv, die sogenannte Generation Y. Denn sie ist gewohnt, mit allen zu kommunizieren – nicht nur innerhalb der Abteilungen oder entlang von Workflows und Geschäftsprozessen. Auch das Qualifizierungsniveau der Mitarbeiter ändert sich, denn die Anforderungen aufgrund der Komplexität der Systeme steigen. Unternehmen benötigen einerseits kompetentes Personal, das dieser Herausforderung gewachsen ist. Andererseits vereinfacht die Technologie industrielle Prozesse und Handgriffe. Ein Beispiel dafür sind „assistierte“ Mitarbeiter: Sie können ohne vorheriges Training, aber ausgestattet mit technischen Hilfsmitteln wie Smart Glasses auf Expertenwissen zugreifen – etwa vor Ort Informationen abrufen, wie sie ein Werkstück bearbeiten oder eine Maschine reparieren sollen.

TEAMARBEIT IN ZEITEN VON INDUSTRIE 4.0

Eine weitere neue Form der Zusammenarbeit sind so genannte Communities of Practice, also praxisbezogene Arbeitsgruppen, die den funktionsübergreifenden Austausch im Unternehmen pflegen. Auf diese Weise können beispielsweise die Erfahrungswerte von Gruppenteilnehmern aus der Produktion zu verbesserten Abläufen führen. Oft kommen auch Verbesserungsvorschläge für Produkte oder für die Fertigung von Kunden oder vom Vertrieb.

Communities of Practice bieten eine Möglichkeit, diese unterschiedlichen Informationen schnell als Feedback an die Entwicklungs- oder Arbeitsvorbereitungsabteilung zurückzuspielen. Ähnlich wie bei Linkedin oder Xing kann damit ohne Rücksicht auf Hierarchien und Abteilungsgrenzen jeder mit jedem kommunizieren. In solchen Communities finden sich Kollegen ein, die sich nicht zwangsläufig kennen müssen. Sie geben Kommentare ab, stellen Fragen, tauschen sich aus und generieren so wertvolle Ideen.

GROSSE AUSWIRKUNGEN AUF KONSUMENTEN UND PRODUKTE

Nicht zuletzt wird sich Industrie 4.0 auch beim Konsumenten bemerkbar machen: Endverbraucher werden die Möglichkeit haben, Produkte nach ihren individuellen Wünschen anstatt von der Stange zu kaufen. Ähnlich wie es heute beim Autokauf schon der Fall ist, können die Käufer ihre Wünsche vor der Herstellung äußern – und erhalten dann ein maßgeschneidertes Produkt, das dennoch bezahlbar ist.

Der nächste Schritt ist das Smart Product: Intelligente Produkte weisen über ihren gesamten Produktlebenszyklus einen hohen Grad an Konnektivität auf. Sie interagieren mit dem Nutzer: So kann ein Auto den Fahrer auf die nächste Tankstelle hinweisen, wenn es anhand des Fahrstils kalkuliert, mit der vorhandenen Füllung die Strecke nicht zu schaffen.

Oder es stellt fest, dass es früher oder später als geplant zum nächsten Werkstatttermin muss. Schon heute unverzichtbar: das Smartphone. Aufgrund offener Architekturen lassen sich Anwendungen von Drittanbietern integrieren, die den ursprünglichen Nutzen des Telefonierens anreichern. So kommt es als Navigationsgerät ebenso zum Einsatz wie als kleine Spielkonsole, Fitness-Tracker oder Taschenlampe.

IMMER MEHR INFORMATIONSAUSTAUSCH

Bisher konzentriert sich Industrie 4.0 auf die Zusammenarbeit innerhalb der Grenzen einer Fabrik. Doch für Unternehmen wird der globale Kontext immer wichtiger. Sie wollen ihre Fabriken vergleichbar und flexibel machen, etwa indem sie Produkte je nach Bedarf an mehreren Stellen produzieren können. Die Vorgabe lautet: Entwickle ein Produkt und befähige die Anlagen, Prozesse und Organisation, es überall in der Welt herzustellen. Dabei werden Produkte immer stärker variieren und auf individuelle Kundenwünsche zugeschnitten, gleichzeitig verkürzen sich die Produktionszyklen.

MEHR FLEXIBILITÄT

Die Konsequenz dieser Entwicklung: Unternehmen und ihre Mitarbeiter müssen um einiges flexibler werden, als das bisher der Fall war. Denn mit den heutigen Strukturen lassen sich die zunehmende Komplexität und Geschwindigkeit in der Produktion, wie sie der globale Wettbewerb vorgibt, nicht meistern. Das wird nur gelingen, wenn die reale Fabrik zeitnah mit der virtuellen Welt der IT-Systeme verbunden ist, sodass von der Produktionshalle bis zum oberen Management aufgrund konsistenter Informationen bessere Entscheidungen getroffen werden können.
Diese immer größer werdende Komplexität müssen die Mitarbeiter von morgen managen. Da die einfacheren Handgriffe immer mehr von Maschinen übernommen werden und der Mensch vermehrt administrative Aufgaben übernehmen muss, steigt auch seine Verantwortung signifikant. Wenn auch die Automatisierung eine wichtige Rolle spielt, bleibt der Mitarbeiter das zentrale Element. Denn nur er ist letztlich in der Lage, Zusammenhänge in den Kontext zu bringen und auch jederzeit situativ zu entscheiden.

* Der Autor Ulrich Ahle ist Head of Consulting & Systems Integration Market Manufacturing, Retail and Transportation beim IT-Dienstleister Atos.


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