Ist Individualsoftware tot? 

Glaubt man aktuellen Studien, so scheint die Entwicklung in Richtung Standardsoftware unaufhaltsam. ITWelt.at sprach mit Martin Marinschek von irian über die Zukunft der Individualsoftwareentwicklung – und welche Rolle KI dabei spielt. [...]

(c) Pexels
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„Die IT hat sich in den letzten Jahren immer weiter weg von der Rolle eines reinen internen Dienstleisters, der überwiegend Support-Funktionen übernimmt, hin zum Business Enabler und Mitgestalter der Unternehmensprozesse und damit der digitalen Transformation entwickelt“, schreiben die Autoren Mario Zillmann und Tobias Ganowski, Consultant beziehungsweise Partner bei Lünendonk im Vorwort der Studie „Anwendungsmodernisierung und Cloud-Transformation – Strategien, Planungen und Herausforderungen für die IT der Zukunft“. 

Zu den zentralen Ergebnissen der Studie gehört die Erkenntnis, dass nur sehr wenige Unternehmen mit ihrer Anwendungslandschaft vollkommen zufrieden sind. Bloß 13 Prozent der Unternehmen sehen ihren IT-Stack als sehr gut aufgestellt an. Zukünftig wollen 70 Prozent der befragten Unternehmen an ihren bestehenden Legacy-Systemen festhalten und für bestimmte Bereiche die IT-Architektur fortführen. Gleichzeitig werden 67 Prozent der Unternehmen Teile ihrer Individualsoftware-Lösungen auf Standardsoftware umstellen.

Überhaupt scheint das Pendel sehr deutlich in Richtung Standardsoftware auszuschlagen. Hohe Usability, günstigere Anschaffungskosten, große Verbreitung und regelmäßige Updates gehören zu jenen Aspekten, die meistens im Zusammenhang mit dem Umstieg auf Lösungen von der Stange genannt werden. Heißt das, dass es nur eine Frage der Zeit, bis Individualsoftware in den meisten Business-Bereichen den Status von Dinosauriern erlangt?

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Die Gründer von irian: Martin Marinschek und Thomas Spiegl. (c) irian

Wiener IndivIDualexperten

ITWelt.at hat mit Martin Marinschek gesprochen, der gemeinsam mit Thomas Spiegl die Wiener Softwareschmiede irian gegründet hat. Der Individualsoftware-Spezialist hat unter anderem dadurch Bekanntheit erlangt, dass er im Jahr 2002 die erste Version des Bundesschatzes entwickelte. „Das war noch vor der Gründung der Firma im Jahr 2004. Nachdem die Zinsen 2019 auf null Prozent gefallen waren, hat die Österreichische Bundesfinanzierungsagentur das Projekt eingestellt. Jetzt ist die Situation wieder eine ganz andere. Die Anleihenzinsen für sämtliche Laufzeiten sind deutlich gestiegen, daher kam es zur Wiederauflage. Da das Knowhow der ersten Version im Unternehmen noch vorhanden und das Projekt zeitkritisch war, haben uns die Verantwortlichen gebeten, bei der Ausschreibung teilzunehmen. Wir konnten in nur fünf Monaten die neue Web-Applikation, bestehend aus der kundenseitigen Web-Applikation und dem Administrationsteil, der die interne Applikation inklusive Zahlungsabwicklung beinhaltet, entwickeln und in die Infrastruktur des Bundesrechenzentrums integrieren“, erklärt Marinschek. 

Ein zentrales Thema des Gesprächs war die eingangs gestellt Frage, welche Bedeutung Individualsoftware heute hat. „Meine persönliche Meinung dazu ist: Wenn es eine Standardsoftware gibt, die genau das macht, was benötigt wird, dann entwickle auf keinen Fall individuelle Software. Jetzt kommt ein großes Aber, und von diesem Aber leben wir: Es gibt immer Situationen, in denen ein Unternehmen spezielle Anforderungen abdecken will, wo es schnell und dynamisch auf Anforderungen des Marktes reagieren muss, wo bestimmte Prozesse, die einen Mehrwert bieten, nicht durch eine Standardsoftware abgedeckt sind. In all diesen Fällen macht individuelle Software-Entwicklung Sinn. Es geht also um Situationen, in denen ein Unternehmen einen Mehrwert am Markt bietet, was eine Standardsoftware niemals erzielen kann, weil jeder sie gleich verwenden kann.“

Marinschek nennt das Beispiel, dass eine Bank Trades schneller abwickeln will als alle anderen am Markt. „Mit Standardsoftware kommt man da nicht weit, das wissen die Kunden, die zu uns kommen, weil sie es schon probiert haben. So haben wir einige individuelle Trading Solutions gebaut. Außerdem sind etwa Schweizer Banken mit vier Regulatoren konfrontiert, die unglaublich komplexe Anforderungen stellen, die Jahr für Jahr noch komplexer werden.“  Ein weiterer Use Case, den Martin Marinschek erwähnt, ist jener des Identity und Access Managements, das zu den Schwerpunkten des Unternehmens gehören. „Eine Großbank in der Schweiz mit Standorten in allen Weltregionen brauchte in diesem Bereich eine Lösung, die global ausgerollt werden konnte, sodass alle Regulatoren zufrieden sind und jedes Jahr das Audit ordentlich über die Bühne gehen kann. Wir haben für die Credit Suisse im Laufe von 20 Jahren das gesamte IAM-Portfolio mit 60 Applikationen und fünf Millionen Zeilen Code gebaut. 50.000 Mitarbeiter und Millionen Kunden werden darüber gespielt – ein komplexes Riesensystem. Das bekommt eine Standardsoftware niemals hin. Das hat nur funktioniert, weil wir bei der Identity- und Access-Management-Landschaft Schritt für Schritt vorangegangen sind, Modul für Modul. ›Divide et impera‹ gilt auch für die Software-Entwicklung. Der Microsystems-Ansatz in der Software-Architektur, der in den letzten Jahren sehr gehyped wurde, geht uns zu weit, weil der Detaillierungsgrad zu hoch ist.“   

„Wir lieben Open Source“ 

Gegründet haben Martin Marinschek und Thomas Spiegl das Unternehmen 2004: „Wir kommen alle aus dem Open-Source-Umfeld, wir haben in unterschiedlichen Projekten zusammengearbeitet. Es sind Unternehmen auf uns zugekommen, die Beratung und Umsetzungen in diesem Umfeld nachgefragt haben. Wir brauchten dafür ein Vehikel und haben irian gegründet. Aus den reinen Open-Source-Projekten wurden allgemeine Software-Projekte. Wir beschäftigen derzeit rund 90 Entwickler und Entwicklerinnen an vier Standorten: Wien, Oldenburg, Zürich und Timisoara in Rumänien.“ 

Wenig überraschend ist, dass auch irian vom Problem des Fachkräftemangels betroffen ist. „Wir sind jedoch immer organisch gewachsen, langsam aber stetig. Die Mund-zu-Mund-Propaganda spielt bei uns eine wichtige Rolle. Zu uns kommen Leute, die wir bereits aus der Open-Source-Community kennen, von der Universität oder Fachhochschule. Die besten Studenten und Studentinnen laden wir zu uns ein.“

Was die Unterstützung durch die Open-Source-Community betrifft, um Individuallösungen zu schaffen, so fällt das Urteil von Martin Marinschek eindeutig aus: „Wir lieben Open Source, wir setzen uns dafür ein, wir tragen zur Weiterentwicklung bei. Open Source ist auch nicht perfekt, aber wenn etwas nicht funktioniert, kann ich es ändern. Gibt es ein Problem, kann man die Community fragen. Open-Source-Communities sind viel offener als Unternehmen, die sich als starre Blöcke präsentieren.“ 

Neben dem erwähnten Bundesschatz und Credit Suisse punktet das Wiener Unternehmen mit einer beeindruckenden Referenzliste. Bei Red Bull zum Beispiel wurde ein veralteter und zeitraubender Ansatz im Category Management durch die Einführung eines modernen Online-Shelf-Planners mit benutzerfreundlicher Oberfläche ersetzt. Dies führte zu einer drastischen Verkürzung der Einarbeitungszeit, zur Beseitigung von Fehlern und zur Steigerung der Produktivität, so die Informationen von irian. Wie kommt man zu global agierenden Enterprise-Kunden? „Bis vor einem Jahr hatten wir kein Marketing oder Sales. Wir sind immer angefragt worden. Oft ist es so, dass wir die Ruinen von schiefgegangenen Projekten anderer Anbieter übernehmen. Dann müssen wir mit dem Rest des Budgets und meist unter hohem zeitlichen Druck Lösungen finden. Wir haben in der Branche den Ruf des Problemlösers. Wir sind quasi die Quick Reaction Force.“   

Mehr Individualsoftware

Auf die Frage, welche Bedeutung KI in der Entwicklung spielen wird, antwortet Marinschek: „Ich bin nicht der Typ, der gerne auf Hypes aufspringt. Ich habe nie verstanden, warum so viel über Bitcoins und Blockchains gesprochen wird. Bei der KI ist das anders, KI wird in den nächsten 20 Jahren eine große Rolle spielen. Dadurch wird es möglich sein, Forschung zu betreiben, so viel man will und wir werden völlig neue Dinge erschaffen. Es wird auch viel einfach werden, Software zu entwickeln. Ich glaube daher, dass KI dafür sorgen wird, dass wir in Zukunft mehr Individualsoftware sehen werden, die mit KI-Unterstützung entwickelt wird. Dadurch dass jedem einzelnen im Prinzip unbegrenzte Intelligenz zur Verfügung steht – und das zu niedrigsten Kosten – und damit die Möglichkeit besteht, alles Denkmögliche umzusetzen, benötige ich keine unternehmerischen Strukturen mehr oder 100 Leute, die meine Ideen realisieren. Da stellt sich die Frage, ob es in Zukunft überhaupt noch Unternehmen geben wird.“ 

Das Thema der künstlichen Intelligenz bringt ihn sogar dazu, wieder die Schulbank zu drücken: „Ich habe zwar schon einige KI-Projekte umgesetzt, aber trotzdem letztes Jahr den Entschluss gefasst, wieder auf die Uni zu gehen, um mich stärker mit dem theoretischen Background im Bereich KI auseinanderzusetzen. An der Uni habe ich gesehen, wie befruchtend die Interaktion mit ChatGPT sein kann, wenn man generell ein neues Feld betritt, von dem man noch keine Ahnung hat – das ist der Mentoring-Aspekt von KI.“

Seine Einschätzung wird von Gartner gestützt. Bis 2028 sollen 75 Prozent der Software-Entwickler in Unternehmen KI-Code-Assistenten verwenden, während es Anfang 2023 noch weniger als zehn Prozent waren. Die Vorteile würden über Codegenerierung hinausgehen, so die Experten und Expertinnen des US-Marktforschungsunternehmens. Besagte Systeme sind kollaborative Assistenten, die die Effizienz von Entwicklern verbessern, indem sie das Brainstorming und die Codequalität verbessern, was es Entwicklern ermöglicht, sich kontinuierlich weiterzubilden und ihre Fähigkeiten in verschiedenen Programmier-Frameworks auszubauen. Die von den KI-Code-Assistenten gebotenen Möglichkeiten führen zu einer höheren Arbeitszufriedenheit und -bindung, wodurch die mit der Fluktuation verbundenen Kosten gesenkt werden.

„Die Berechnung der Zeitersparnis bei der Codegenerierung ist ein guter Ausgangspunkt für den Aufbau einer solideren Wertgeschichte“, so Philip Walsh, Senior Principal Analyst bei Gartner. „Um den vollen Unternehmenswert von KI-Code-Assistenten zu vermitteln, sollten Software-Entwicklungsleiter die Wertschöpfung mit den Auswirkungen verbinden und dann die Gesamtrendite für das Unternehmen analysieren.“ 

Angesichts der Vorteile, die maßgeschneiderte Applikationen von Haus aus mitbringen, und der neuen KI-Möglichkeiten ist die Eingangsfrage, ob Individualsoftware tot ist, schnell zu beantworten: Die Entwicklung von Individualsoftware ist nicht einmal in die Jahre gekommen. Im Gegenteil.


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