Komplexe Produktion

Hersteller stoßen bei der Entwicklung komplexer Produkte mit herkömmlichen Prozessen schnell an ihre Grenzen. Deshalb setzen immer mehr Unternehmen auf Product Line Engineering. Wichtig ist dabei, dass die Prozesse ganzheitlich betrachtet werden. [...]

Produktentwicklung wird zur Herausforderung. (c) Unsplash

Der wirtschaftliche Erfolg Österreichs basiert neben Tourismus und Handel zu weiten Teilen auf Unternehmen mit innovativen Produkten, die auf dem Weltmarkt gefragt sind. Die Welt verändert sich jedoch rasend schnell. Was gestern gefragt war, kann morgen schon zum Ladenhüter werden. Umso wichtiger ist es für die Hersteller, dass die einzelnen Produkte einen echten Mehrwert bieten – und Kunden idealerweise lange Freude daran haben. Möglich ist dies mit smarter Software, die im optimalen Fall während des gesamten Produktlebenszyklus spürbare Verbesserungen liefert.

Kaum ein Produkt kommt deshalb heutzutage ohne aufwendige Software aus. Bei modernen Autos ist das offensichtlich. Vom Bremssystem über den Bordcomputer bis hin zum Airbag ist alles automatisiert. Doch auch ehemals eher simple Produkte wie Kaffeemaschinen sind aufgrund der steigenden Bedürfnisse der Anwender mittlerweile derart komplex, dass sie nicht mehr ohne umfassende Entwicklungs- und Produktionsabläufe erstellt und gepflegt werden können.

Unabhängig von der Branche müssen sich alle Unternehmen auf die geänderten Marktverhältnisse einstellen. Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen hängt immer stärker davon ab wie schnell und flexibel sie ihre Produkte entwickeln können. Den gesamten Lebenszyklus eines Produkts oder einer Software zu betrachten, ist ein bekannter und etablierter Prozess und Product-Life-Cycle-Management (PLM) den meisten Unternehmen vertraut. Doch das allein reicht nicht mehr aus. Für die Wettbewerbsfähigkeit ist mittlerweile vielmehr die Entwicklung in Produktlinien der Schlüssel zum Erfolg.

Product Line Engineering als Basis für neue Methoden

Die Entwicklung in Produktlinien mittels Product Line Engineering (PLE) bildet die Basis für eine ganze Reihe wichtiger Methoden bei der Entwicklung moderner Produkte. »Ziel ist es, eine gemeinsame Plattform zu schaffen, aus der sich alle Produktvarianten ableiten lassen«, sagt Danilo Beuche, der sich seit über zwei Jahrzehnten mit der Optimierung von Produktentwicklungsprozessen beschäftigt – unter anderem als Honorarprofessor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig sowie als CEO des Magdeburger Software-Spezialisten pure-systems. »Beim PLE wird nicht das jeweilige Produkt im Einzelnen, sondern die komplette Produktfamilie betrachtet und entwickelt – aufbauend auf einer gemeinsamen Plattform, die sämtliche Assets umfasst, die in einem oder mehreren Produkten verwendet werden«.

PLE hat seinen Ursprung in der Softwareentwicklung. Dort sind komplexe Systeme, Variabilität und kurze Produktzyklen seit jeher gegeben. Aufgrund der stetig steigenden Digitalisierung findet diese Methode in mehr und mehr Branchen Anklang. Letztlich kann jede Branche und jedes Unternehmen von PLE profitieren. Einer der Vorteile von PLE ist, dass sich mit dieser Methode die Wiederverwendbarkeit der einzelnen Elemente stark erhöht, was die Entwicklung wirtschaftlicher und gleichzeitig nachhaltiger macht.

Unternehmen müssen in Systemen denken

Nur die einzelnen Baugruppen zu betrachten, aus denen ein Produkt besteht, reicht bei komplexeren Produkten nicht mehr aus. Schließlich stehen die einzelnen Baugruppen in einer direkten Abhängigkeit zu anderen Baugruppen. Am Beispiel eines Autos lässt sich dieser Sachverhalt leicht nachvollziehen. So wird bei einem Unfall heutzutage nicht nur der Airbag ausgelöst, sondern beispielsweise auch die Fensterscheibe geöffnet, da sich so das Verletzungsrisiko minimiert. Mitunter wird auch noch automatisch ein Notruf abgesetzt oder die Warnblinkanlage eingeschaltet. Ändert man als Hersteller etwas an einer Baugruppe, hat dies also höchstwahrscheinlich auch Einfluss auf das gesamte System. »Deshalb ist es wichtig, entsprechende Produkte in Systemen und nicht in autarken Baugruppen zu entwickeln«, so Beuche. Beim sogenannten Systems Engineering werden also auch immer alle Abhängigkeiten berücksichtigt.

Variantenmanagement ist unverzichtbar

Systems Engineering und PLE, also das Denken und Entwickeln in Systemen unter Berücksichtigung aller Abhängigkeiten und Varianten, sind für die Entwicklung komplexer Produkte quasi unverzichtbar geworden. Flugzeugbauer wie Airbus nutzen diese Methoden erfolgreich bei der Entwicklung von Flugzeugen, die gezielt auf die Wünsche der jeweiligen Auftraggeber und deren Kunden ausgerichtet sind. Gleichzeitig ersparen sich die Unternehmen viel Aufwand und Zeit, indem sie unter anderem auf ganzheitliches Variantenmanagement setzen.

Letzteres hilft auch dabei, die Produkte stets auf dem neusten Stand der Technik zu halten. »Nur mit stetigen Software-Updates kann eine anhaltende Kundenzufriedenheit und damit Kundenbindung erreicht werden«, sagt Jan Bosch, Professor für Software Engineering an der Chalmers University of Technology in Göteborg. »Je öfter ein Produkt ein Update erhält, desto besser ist das Produkt und der Service, was letztlich zu glücklichen Kunden führt«, lautet sein Ratschlag an die Entscheider und Entwicklungsabteilungen.

Um eine Maschine, eine Anlage oder ein Auto selbst nach Jahren mit einem Software-Update versorgen zu können, ist es allerdings zwingend erforderlich, das Produkt noch in allen Details zu kennen. Es muss klar sein, welche Steuergeräte verbaut wurden und welche Systemkomponenten es gibt. »Deshalb macht es Sinn, einen digitalen Zwilling zu erstellen und bei jeder Wartung und Reparatur nicht nur das operative Original, sondern auch den digitalen Doppelgänger zu aktualisieren«, sagt Danilo Beuche. »Bei Produkten mit einem hohen Softwareanteil und vielen Varianten sind die Prozesse so komplex, dass diese Aufgabe ohne eine entsprechende Software-Lösung nicht mehr zu bewältigen ist.« Vergleiche man modernes Variantenmanagement mit moderner Lagerverwaltung, werde schnell deutlich, wieso kein Weg an PLE und Software-basiertem Variantenmanagement vorbeiführe. »Schließlich wäre es durchaus möglich, selbst das Lager von Amazon weiterhin mit Zettel und Papier zu führen, wenn man genug Personal und Papier zur Verfügung stellt«, so Beuche. »Effektiv und sinnvoll wäre es jedoch nicht, hier weiterhin auf traditionelle Methoden zu setzen. Gleiches gilt für die Entwicklung moderner und komplexer Produkte.«

Ganzheitliche Lösung für alle Abteilungen

Bei der Entwicklung komplexer Produkte mit verschiedenen Varianten sollte der gesamte Entwicklungsprozess ganzheitlich betrachtet werden und jede Abteilung jederzeit einbezogen sein. »Damit das möglich ist, haben wir Konnektoren für die unterschiedlichen Entwicklungs-Tools wie IBM Doors Next, Siemens Polarion und Catia Magic (MagicDraw) erstellt, sodass sämtliche Informationen einfließen und alle Mitarbeiter mit den ihnen vertrauten Werkzeugen arbeiten können«, so der Experte. »Das ist eine große Arbeitserleichterung für die Mitarbeiter und hilft dabei, Fehler und Missverständnisse zu vermeiden und Ressourcen besser zu nutzen.«

Eine zeitnahe Umstellung auf PLE und ganzheitliches Varianten-Management würde für viele Unternehmen also allein schon aus rein wirtschaftlichen Gründen Sinn machen. Vor dem Hintergrund, dass es seit Jänner dieses Jahres eine europaweite Pflicht für alle Hersteller von digitalen Produkten und Software gibt, regelmäßig Updates zur Verfügung zu stellen, könnten sich einige Unternehmen zukünftig sogar gezwungen sehen, ihre bisherigen Prozesse zu überdenken – ob sie wollen oder nicht. Schließlich ist es durchaus denkbar, dass eine ähnliche Update-Pflicht auch für Produkte eingeführt wird, die über einen hohen Softwareanteil verfügen. Es könnte also sein, dass Hersteller von komplexen Produkten irgendwann zu ihrem Glück gezwungen werden und auf PLE und modernes Variantenmanagement umstellen müssen. Klüger wäre es jedoch, diesen Schritt bereits jetzt zu gehen.


Mehr Artikel

Gregor Schmid, Projektcenterleiter bei Kumavision, über die Digitalisierung im Mittelstand und die Chancen durch Künstliche Intelligenz. (c) timeline/Rudi Handl
Interview

„Die Zukunft ist modular, flexibel und KI-gestützt“

Im Gespräch mit der ITWELT.at verdeutlicht Gregor Schmid, Projektcenterleiter bei Kumavision, wie sehr sich die Anforderungen an ERP-Systeme und die digitale Transformation in den letzten Jahren verändert haben und verweist dabei auf den Trend zu modularen Lösungen, die Bedeutung der Cloud und die Rolle von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Unternehmenspraxis. […]

News

Richtlinien für sichere KI-Entwicklung

Die „Guidelines for Secure Development and Deployment of AI Systems“ von Kaspersky behandeln zentrale Aspekte der Entwicklung, Bereitstellung und des Betriebs von KI-Systemen, einschließlich Design, bewährter Sicherheitspraktiken und Integration, ohne sich auf die Entwicklung grundlegender Modelle zu fokussieren. […]

News

Datensilos blockieren Abwehrkräfte von generativer KI

Damit KI eine Rolle in der Cyberabwehr spielen kann, ist sie auf leicht zugängliche Echtzeitdaten angewiesen. Das heißt, die zunehmende Leistungsfähigkeit von GenAI kann nur dann wirksam werden, wenn die KI Zugriff auf einwandfreie, validierte, standardisierte und vor allem hochverfügbare Daten in allen Anwendungen und Systemen sowie für alle Nutzer hat. Dies setzt allerdings voraus, dass Unternehmen in der Lage sind, ihre Datensilos aufzulösen. […]

Be the first to comment

Leave a Reply

Your email address will not be published.


*