Die bei Anwenderunternehmen im Einsatz befindlichen ERP-Systeme werden immer älter. Wer so lange an seinem ERP-System herumgebastelt hat, bis kein Releasewechsel mehr möglich ist, hat mittel- bis langfristig ein Problem. [...]
Alljährlich stellt sich die Frage nach den Trends im ERP-Markt. In der Regel wird dann der aktuelle Schlagwortmarkt abgesucht und nach sinnvollen oder weniger sinnvollen Interpretationen gesucht. Gerade im ERP-Markt werden dabei die wirklichen Trends und Entwicklungen übersehen, da diese in aller Regel wenig marktschreierisch auftreten, sondern sich eher durch eine langfristige Betrachtung erfassen lassen.
Eine der zentralen Entwicklungen, die sich im Moment am ERP-Anwendermarkt beobachten lässt, ist die Tatsache, dass die installierten ERP-Systeme im täglichen Einsatz immer älter werden. Während man früher von einem Innovationszyklus nach dem Muster „Einführen, Benutzen, Ablösen“ über eine Laufzeit von 8 bis 12 Jahren ausging, werden die Standzeiten der installierten Basis immer länger. So sind heute ERP-Systeme mit 15 und mehr Jahren Nutzungszeit seit ihrer ersten Einführung keine Seltenheit mehr.
Der Grund dafür ist relativ simpel: Während sich einerseits der Anbietermarkt im ERP-Bereich seit Jahren ausdünnt, sind die Marktführer seit vielen Jahren dieselben Anbieter. Anwender, die sich vor 15 Jahren für ein auch heute noch marktführendes System entschieden haben, ein halbwegs vernünftiges Einführungsprojekt hingelegt haben und keine größere strukturelle Veränderung – etwa ein Downsizing – hinter sich haben, betreiben auch 15 Jahre später noch dieselbe Software.
Damit stellt sich die Frage, ob wir diese ERP-Systeme nicht langsam in die Geriatrie überweisen sollten? Die Kernherausforderung liegt dabei bei den Anbietern, die ihre Systeme im Kern erhalten müssen, inklusive der zum Teil deutlich veralteten Software-Technologien. Gleichzeitig sind funktionale Erweiterungen gefordert. Auch wenn sich über die Kerntechnologie einiger ERP-Systeme lange und kontrovers diskutieren lässt: Marktführende Anbieter wie SAP oder Microsoft haben diese Herausforderungen in den vergangenen Jahren und den Spagat zwischen „alt“ und „neu“ halbwegs elegant hingelegt. In der Folge können Anwenderunternehmen davon ausgehen, dass die Systeme, die heute im Einsatz sind und die obigen Kriterien erfüllen, auch die nächsten 25 Jahre noch weiterlaufen werden. Damit wird der Trend zu immer älteren installierten ERP-Systemen zur langfristigen Herausforderung für die Anwenderunternehmen. Diese müssen den „Alt-Neu-Spagat“ für ihr Unternehmen umsetzen.
In erster Linie muss sich ein Unternehmen über die Zielsetzungen klarwerden: Es geht darum, den erfolgreich installierten Software-Kern zu betreiben und maßvoll weiterzuentwickeln und gleichzeitig den Anschluss an den Innovations- und Technologiemarktplatz des ERP-Anbieters nicht zu verlieren. Die klassische Bankrotterklärung ist die Aussage: „Wir haben so viel an unserem ERP-System herumgebastelt, dass wir keinen Releasewechsel mehr machen können.“ Das ist so, als wenn sich ein Unternehmen die Brücke in die ERP-Zukunft selbst weggesägt hat. Vor allem Releasewechsel haben es bei vielen Anwenderunternehmen – gerade im Mittelstand – schwer, da sie in aller Regel nur unter Kostengesichtspunkten bewertet werden.
WISSENSMANAGEMENT
Was aber sollten Firmen unternehmen, um immer älter werdende Kernsysteme zu betreiben und gleichzeitig den Anschluss nicht zu verlieren? An erster Stelle steht das interne Wissensmanagement. Mit zunehmenden Laufzeiten wird es immer schwieriger, Mitarbeiter im eigenen Unternehmen zu finden, die die Einführung des ursprünglichen Systems mitgemacht haben und Bescheid wissen. Auch gibt es immer weniger klassische IT-Leiter, die quasi als Universalgelehrte IT-Systemwissen und Prozesswissen über alle Bereiche im Unternehmen in einer Person vereinigen. Eine immer wichtigere Rolle spielt daher die Weitergabe von Wissen und eine saubere und laufend aktualisierte Dokumentation.
Ein wichtiger weiterer Ansatz ist ein sauberes Konfigurationsmanagement. Leider haben in diesem Bereich viele Anbieter bis heute geschlampt und bis heute fehlt vielen ERP-Installationen ein sauberes Konfigurationsmanagement. In der Folge entstehen klassische Abhängigkeiten von Einzelpersonen, die mit der Zeit immer mehr zementiert werden. In direktem Zusammenhang hiermit steht eine saubere IT-Governance. Vor diesem Thema schrecken gerade Mittelständler gerne zurück, da sie Governance als Bürokratiemonster betrachten. Dennoch ist es sinnvoll, sich in der IT Prozesse und Regeln aufzuerlegen, die über die Jahre hinweg einen klaren Stellenwert und einen gewissen Rhythmus in den IT-Investitionsprozess bringen.
Weiterhin wichtig ist es, Innovationsprojekte durchaus als Selbstzweck zu betrachten. Innovationsprojekte dienen dazu, die Innovationsfähigkeit von Unternehmen aufrecht zu erhalten. Sie sind damit eine Art Fitnessprogramm für das eigene Unternehmen und sollen verhindern, dass man ERP-technisch einrostet. Dazu ist es sinnvoll, in der jährlichen IT-Budgetierung einen Posten etwa unter dem Titel „Innovationslabor“ vorzusehen, der nicht den klassischen Kriterien der Wirtschaftlichkeitsrechnung unterworfen ist. Mit diesen Maßnahmen wird auch die Wahrnehmung von ERP auf Ebene der Geschäftsleitung gestärkt und das grassierende Desinteresse an ERP-Themen bekämpft.
* Eric Scherer ist Geschäftsführer von i2s consulting.
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