Um heutzutage gegen etwas zu protestieren, muss man nicht zwangsweise auf die Straße gehen: Zusehends verlagern sich gesellschaftskritische Töne ins WWW. [...]
Um heutzutage gegen etwas zu protestieren, muss man nicht zwangsweise auf die Straße gehen: Zusehends verlagern sich gesellschaftskritische Töne ins WWW, nutzen etablierte Organisationen ebenso wie scheinbar zusammengewürfelte Gruppen Social Media und Co. zur Koordinierung von Aktionen und haben sich etwa Occupy, Anonymous oder die Anti-ACTA-Bewegung als politisch relevante Akteure positioniert.
Für den Medientheoretiker Felix Stalder lassen sich an diesen „radikalen Netzkulturen“ Inhalte beobachten, die bereits in den 1990er Jahren Thema waren, wie aus dem von ihm mitherausgegebenen Buch „Vergessene Zukunft“ (Transcript-Verlag) hervorgeht. Am Mittwochabend wird die Publikation in Wien präsentiert.
„Eines der Grundmotive der Netzkultur ist eine große Gegenwartsorientierung: es ist immer jetzt, es ist immer neu, es ist immer noch nie dagewesen“, erklärt der gebürtige Schweizer im Interview mit der APA. Die ersten Ausprägungen von vernetzten Gruppen sind in der heutigen Diskussion oft kein Thema. „Wir haben uns gedacht, es lohnt sich, gewisse Diskussionen, Perspektiven und Erfahrungen sozusagen vor dem Vergessen zu retten.“ So sei vor gut 20 Jahren „die Infrastruktur noch sehr viel dezentraler“ gewesen, Leute hätten eigene Server und Mailinglisten betreiben müssen, um die Vorteile des World Wide Web überhaupt nutzen zu können.
Inhaltliche Kontinuität von Netzkulturen sind dennoch deutlich zu erkennen: „Ich glaube, es gibt Grundthemen, die sich durchziehen und etwas mit den genuinen Möglichkeiten digitaler Medien zu tun haben sowie der Interpretationen dieser Möglichkeiten in einer progressiven Perspektive.“ Gerade Transparenz, Partizipation und die Frage nach Öffentlichkeit sind damals wie heute in vielen Diskussionen zu erkennen. „Wir können mittlerweile ganz anders sehen, wie öffentliche Institutionen funktionieren und welche Daten sie produzieren. Das ist ein ganz altes Thema, das heute etwa unter dem Begriff ‚Open Government Data‘ stark artikuliert wird“, so Stalder.
Zugleich lässt sich im Vergleich zu klassischen Massenmedien eine Verschiebung der Rolle des Konsumenten attestieren, mit Stichwörtern wie User Generated Content oder Prosumer. Das geht auch „in Richtung Urheberrechtsdebatte, und ACTA ist wie ein Ausfluss dieser 20-jährigen Diskussion, in der man eigentlich schon sehr früh gesagt hat, das Urheberrecht mit seiner strikten Trennung zwischen Urheber und Nutzer ist im digitalen Kontext sehr problematisch, weil es eben viel mehr ein dauerndes Weiterverarbeiten ist“.
EINGRIFF IN DEN PERSÖNLICHEN BEREICH Dass der Aufschrei bei ACTA derart massiv war, hat für Stalder zwei Gründe: „In einer Gesellschaft, die auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken aufbaut, ist die Möglichkeit, mich selber auszudrücken, ganz wichtig.“ Eingriffe in diese Möglichkeiten sind gleichzusetzen mit „sehr persönlichen Eingriffen in meinen Alltag. Das ist nicht mehr ein abstraktes Problem, sondern da werde ich gehindert, mich meinem sozialen Umfeld so darzustellen, wie ich es will“. Außerdem sei hier ein Gefühl aufgekommen, „dass wesentliche Entscheidungen in einer hochgradigen undemokratischen Verfahrensweise, nämlich in Geheimverhandlungen über Jahre vorbereitet, unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen wurden. Und diese zwei Momente machen das so empörend“.
Dass die Netzakteure selbst zu politisch relevanten Größen geworden sind, zeigte sich wiederum am kontroversiellen „Stop Online Piracy Act“ (SOPA) in den USA: „Hier ist in der Zwischenzeit eine sehr große und lobbying-mächtige Industrie entstanden, die auf einem anderen Paradigma fußt und diese Form der Durchsetzung des Urheberrechts sehr problematisch sieht. Das gibt dem natürlich eine andere Schubkraft“, verweist Stalder auf Google, Facebook oder Wikipedia, die sich kritisch zu SOPA geäußert haben. „Das sind neue politische Akteure, für die das eine Bedrohung ist und die auch Ressourcen haben, sich auch Gehör zu verschaffen.“
Betrachtet man nun die Protagonisten und Aktivisten der Netzkulturen, so stellen sich diese schnell als sehr heterogene Gruppe dar, die an der politischen Diskussion teilnehmen, ohne jedoch etablierte Kanäle zu nutzen. Für Stalder ist das auf einigen Ebenen durchaus vergleichbar „mit der Umweltbewegung in den 70er Jahren. Jeder negative Protest hat den Vorteil, dass er sehr heterogen ist“. Letztlich würde daraus aber auch ein Kern entstehen, der in Europa aktuell etwa in der Piratenpartei mündete. „Hier beginnt man, so etwas wie eine kohärente Weltsicht zu entwickeln“, was aber mit dem Verlust einiger Unterstützer einhergehe.
FLEXIBILITÄT DES TEILNEHMENS Die Partizipation im Netz kann dabei sehr flexibel gewählt werden. Man könne einen Wikipedia-Artikel lesen, ihn schreiben oder zum Kern der Online-Enzyklopädie gehören, wie Felix Stalder festhält. „Das ist ein sehr gradueller Schritt, den das politische System nicht so richtig erlaubt: Entweder mache ich etwas Kleines, nämlich zu wählen, oder ich mache was Riesengroßes und lasse mich wählen.“ Mittels Modellen wie beispielsweise ‚Liquid Democracy‘ werde nun versucht, flexiblere Formen der Teilhabe ins realpolitische System zu integrieren.
Bei allen konkreten Äußerungen seitens Netzaktivisten wird die öffentliche Diskussion dennoch oft auf die Frage der Gratiskultur im World Wide Web heruntergebrochen, eine Sichtweise, die für Stalder viel zu kurz greift. „Die Gratiskultur und das illegale Filesharing sind Teile des Motors. Aber es ist sehr viel mehr.“ Dadurch, dass man sich „dauernd kommunikativ in der Öffentlichkeit“ präsentieren müsse, gehe es den Leuten auch darum, frei kommunizieren zu können.
„Ob man nun irgendetwas gratis runter lädt oder ob das über eine Flat-Rate geregelt wird – das ist letztlich zweitrangig“, so der Wissenschafter, der an der Zürcher Hochschule für Künste Dozent für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung ist.
Wobei aktuell – unabhängig von gesetzlichen Eingriffen in diese Kommunikationsformen – ein Tauschhandel mit den Infrastrukturanbietern eingegangen wird. „Wir sehen mit Google und Facebook mächtige Akteure einer Kulturindustrie 2.0 entstehen und die verfolgen, ähnlich wie das die Kulturindustrie 1.0 gemacht hat, ganz klar kommerzielle Interessen.“ Gleichzeitig entstehen zusehends neue Modelle, die auf einer „anderen sozialen Logik aufgebaut“ sind, von Wikipedia bis Crowdfunding. Gerade der Druck auf Facebook beim geplanten Börsengang werde steigen, würden kommerzielle Eingriffe überhandnehmen.
Stellt sich nur die Frage, ob ein Ausstieg aus Facebook f
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