Thema Industrie 4.0 nimmt Fahrt auf

Vor nicht ganz zwei Jahren wurde an der TU Graz eine Pilotfabrik für Industrie 4.0 gegründet. Rudolf Pichler, Projektleiter der Smart Factory, und Alexander Szameitat vom Partnerunternehmen proALPHA Austria geben im Interview einen Überblick über die Aktivitäten. [...]

Nebst einer modernen Ausbildung der Studierenden sind die Smart Factory und andere Pilotfabriken wichtige Anlaufstellen für die Industrie, insbesondere für KMU, die mehr Unterstützung im Aufbau von Industrie-4.0-Infrastrukturen benötigen. Pilotfabriken füllen die vielen, oft unklaren Begriffe mit Leben. (c) Fotolia/Alexander Limbach

Wie ist Österreichs Industrie beim Thema Industrie 4.0/IoT aufgestellt?
Alexander Szameitat:
Mehr als 90 Prozent der Unternehmen sehen mittlerweile die Themen Digitalisierung und Konnektivität als Chance und eine Weiterentwicklung der eigenen Firma in den genannten Bereichen als wichtige Aufgabe an. Konkrete Projekte werden oft durch geforderte Auflagen wichtiger Geschäftspartner »erzwungen«, speziell in Automotive-Industrie und Elektronik, aber auch zunehmend im Maschinenbau. Wesentliche Treiber sind erhoffte Effizienzsteigerungen und das Erschließen neuer –meist globaler – Märkte.

Rudolf Pichler, Leiter der smartfactory@tugraz: „Wir sind in weiten Bereichen einzigartig im Vergleich mit anderen Pilotfabriken.“
(c) Lunghammer/TU Graz

Rudolf Pichler: IoT ist kein eindeutig umrissener Begriff, die Branche ist mit entscheidend. Es bedarf einer Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Integration und man muss Großbetriebe anders betrachten als KMU. Tendenziell sind die Großbetriebe mit erhöhter, schon bestehender IT-Vernetzung, Infrastruktur und mehr Fachpersonal um einige Entwicklungsschritte voraus. Wiederkehrende Veröffentlichungen besagen, dass die skandinavischen Länder führend sind. Gegenüber Deutschland und Schweiz ist Österreich etwas hinten nach. Jedoch gibt es auch in Österreich leuchtende Beispiele und jede Durchschnittsbewertung hat ihre bekannten Probleme in der Aussagekraft.

Wie weit sind österreichische KMU im internationalen Vergleich und was sind ihre größten Herausforderungen?
Szameitat:
Österreichische Unternehmen waren jahrelang eher in einer abwartenden Position, aber seit einigen Jahren nimmt das Thema auch bei uns Fahrt auf. Die stetig steigende Anzahl von Digital Natives in Managementpositionen bei österreichischen Unternehmen erhöht die Bereitschaft besonders merkbar, in neue Technologien zu investieren. Die größten Herausforderungen liegen in der mangelnden Vernetzungsfähigkeit und Erweiterbarkeit bestehender Hard- und Softwarelösungen, den Investitionskosten für Nachrüstungen oder Neuanschaffungen, Problemen mit Sicherheit und ständiger Verfügbarkeit von global vernetzten Systemen und schlussendlich der Ausbildung der eigenen Belegschaft und der Bereitschaft zu organisatorischen Änderungen im Unternehmen.

Alexander Szameitat ist Prokurist und Bereichsleiter für Softwareentwicklung und Systemtechnik bei proALPHA und akademisch zertifizierter Industrie 4.0 Professional.
(c) proALPHA

Was ist der Status quo der Smart Factory?
Pichler:
Status quo der smartfactory@tugraz nach nicht ganz zwei Jahren ist, dass die zu verknüpfenden Anlagen wie Werkzeugmaschinen, Roboter oder Shuttles zu 85 Prozent angeschafft sind und auch die eingesetzten Software-Pakete im Haus sind. Jetzt gilt es, die anspruchsvolle Integration vom Office Floor bis in den Shop Floor durchgängig einzurichten, und hier sind wir in weiten Bereichen einzigartig gegenüber anderen Pilotfabriken, die viel Einzeltechnologien, aber keinen gesamten verknüpften Wertschöpfungsstrang abbilden. Dazu wird Software mit einem Gesamtwert von mehr als 1,5 Millionen Euro eingesetzt.

Welche Projekte gibt es derzeit und welche Forschungsfelder umfasst die Smart Factory?
Pichler:
Innerhalb besagter Infrastruktur werden eine Reihe von Forschungsprojekten und mindestens 20 Show Cases vorbereitet. Dazu gehören Themen wie Edge Computing für hochfrequente Maschinendatenerfassung, standardisierte Steuerung von Robotern ohne notwendige proprietäre Programmierung, digitaler Zwilling, RFID für Track and Trace, Human Robot Collaboration und Safety, Security with Intrusion Detection and Protection und noch viele Themen mehr. Gemeinsam mit zwei Teilzeitangestellten und den Masterarbeitskandidaten arbeiten derzeit ca. fünf Studierende am Aufbau der Smart Factory mit. Über eine themenrelevante Vorlesung erreichen wir pro Jahr etwa 35 bis 40 Studierende. Der Plan sieht vor, dass das 50 bis 60 jährlich werden sollen.

Welche Rolle spielt dabei die Partnerschaft mit proALPHA?
Szameitat:
Ein aktiver Austausch zwischen Lehre und Wirtschaft anhand eines gemeinsamen Projekts lässt aktuelles wissenschaftliches Knowhow rasch in praktische Projekte einfließen. Umgekehrt sehen Studenten in der Praxis welche Lösungen aktuell möglich sind und können auch neue theoretische Ideen in Form von Projektarbeiten auf ihre Praxistauglichkeit testen.

Pichler: proALPHA ist ein wertvoller Partner mit einem mächtigen ERP-Produkt. Insbesondere der Produktkonfigurator bietet die Möglichkeit, eine individuelle Losgröße 1 Produktion aufzubereiten und zu begleiten. proALPHA ist auch bereit, sich mit anderen Software-Herstellern der Herausforderung zu stellen, uneingeschränkten Datenaustausch zu betreiben und sich dafür zu öffnen. Dies wird einen sehr innovativen Teil in der Gesamtarchitektur ausmachen.

Warum brauchen wir Pilotfabriken in Österreich?
Pichler:
Nebst einer modernen Ausbildung der Studierenden sind die Smart Factory und andere Pilotfabriken wichtige Anlaufstellen für die Industrie, insbesondere für KMU, die mehr Unterstützung im Aufbau von Industrie-4.0-Infrastrukturen benötigen. Pilotfabriken füllen die vielen, oft unklaren Begriffe mit Leben und aus diesem Verständnis heraus können konkretere individuelle Initiativen in den Unternehmen gestartet werden. Die Pilotfabriken sind Inkubator und Plattform, wo Knowhow-Austausch stattfindet, wo Forschung- und Entwicklung ohne Störung der betrieblichen Abläufe erfolgen kann.

Wie sieht die Fabrik der Zukunft aus?
Szameitat:
Alle beteiligten Systeme sind entlang der Wertschöpfungsketten vernetzt. Daten auf Papier findet man nur mehr für Ausfallszenarien, sonst sind alle Daten digital vorhanden. KI-Systeme unterstützen Menschen bei der Entscheidungsfindung und weisen auf Ereignisse hin, die von der Norm abweichen. Kollaborative Roboter unterstützen Menschen bei komplexen, sich ständig ändernden oder körperlich schweren Tätigkeiten. Auch ETO-Produkte (Engineering-to-Order) lassen sich zeitnah und kostengünstig herstellen.

Pichler: Ausrichtung der Fertigung auf maximale Agilität, Hohes Augenmerk auf Security und weitere Virtualisierung der realen Produktionswelt. Entscheidend für Europa wird die Bereitschaft für hoch individuelle Fertigungen unter Gestaltung von über den eigenen Betrieb hinausgehenden, integrierten Wertschöpfungsketten sein. Das bedeutet Öffnung in allen Belangen und das muss erst mal gelernt sein.


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