Web 4.0 heißt Aktivismus gegen die Übermacht des Kommerzes

Forrester-Analyst Henry Peyret im COMPUTERWELT-Gespräch. [...]

Die COMPUTERWELT hat den Wien-Besuch von Henry Peyret zum Anlass genommen, über die Zukunft des Internets zu sprechen. Sein Erklärungsmodell: darwinistisch. Das Gespräch mit dem Forrester-Analysten: äußerst vergnüglich.

Einige Unternehmen entdecken erst jetzt den Segen der Web-2.0-Welt. Sie als Analyst reden bereits von Web 4.0. Wie relevant ist es heute für Firmen, so weit in die Zukunft zu blicken?

Henry Peyret: Web 4.0 ist viel näher, als man glaubt, es ist gerade im Entstehen. Um das zu sehen, muss man das Web im Spannungsfeld zwischen der Unternehmensseite und den Consumern begreifen. Am Anfang stand das Bemühen der Unternehmen, im Internet Geld zu verdienen – Stichwort E-Commerce. Web 2.0 war die erste Reaktion der Consumer-Seite auf negative Entwicklungen. Die Konsumenten warnten andere etwa vor schlechten Produkten und unlauteren Geschäftspraktiken – die Geburt der ersten Generation in Sachen Social Web, also Social Web 1.0. Web 3.0 gehört wieder den Unternehmen. Ich umschreibe diesen Evolutionsschritt mit Smart Computing.

Wie definieren Sie Smart Computing?

Intelligente Dinge in intelligenten Netzwerken, die intelligente Services bieten. Es geht um Technologien, die bereits seit langem in Entwicklung sind, aber bis dato nicht den Durchbruch geschafft haben, weil immer irgendein Puzzleteil gefehlt hat.

Meinen Sie etwa die vor halben Ewigkeiten angekündigten smarten Kühlschränke, die den Besitzern sagen, dass die Milch zu Ende geht?

Es geht darüber weit hinaus. Web 3.0 umfasst Technologien, die Unternehmen etwa in Echtzeit mitteilen, in welchem Gemütszustand der Smartphone-Besitzer gerade ist, und die es ermöglichen, maßgeschneiderte Werbung abzusetzen. Ist der Stresslevel des Users hoch, kommt unmittelbar die Werbung mit der Beruhigungspille. Eine schreckliche Vorstellung, die die Entwicklung von Web 4.0 provoziert. Web 4.0 ist die Reaktion der Consumer auf Web 3.0, das das Zeug hat, die Privatsphäre massiv zu verletzen. Ich nenne diese Stufe „Activist Social Computing“.

Welche Art von Aktivismus ist gemeint?  

Beispiele für „Hard Activism“ sind etwa „Anonymous“ und „Wikileaks“. Ein Beispiel für „Soft Activism“, der ausschließlich legale Aktionen fährt, ist Goodguide.com, wo Produkte auf Basis von gesundheitlichen, umwelttechnischen und sozialen Kriterien beurteilt werden. Soft Activism umfasst virtuelle wie auch physische Aktionen wie Flashmobs.

Die Bloggerwelt könnte ebenfalls als Teil eines Aktivismus verstanden werden. Wo ist da der Unterschied?

Entscheidend ist, dass sich die Menschen in Web 4.0 zu Gruppen zusammenschließen, um gemeinsam gegen negative Entwicklungen anzukämpfen. Wichtig ist zudem, dass dem Aktivismus ein klares Wertesystem zugrunde liegt. „Consumer Values“ betreffen etwa die Integrität von Produktionsweisen: Wer seine Arbeiter schlecht bezahlt, wird in Zukunft Probleme haben, seine Waren an den Mann zu bringen.

Was können Unternehmen daraus lernen – außer, dass sie ihre Mitarbeiter nicht ausbeuten sollen?

Indem sie die Consumer Values verstehen lernen, können sie viele Fehler vermeiden. Das Problem ist allerdings das von Big Data: Es besteht die Gefahr, dass die Daten, die aus den unterschiedlichsten Kanälen stammen, missinterpretiert werden. Außerdem existiert das Risiko, dass man die Leistungsfähigkeit von Business-Intelligence-Systemen überschätzt. Gerade in Sachen Semantik sind die Lösungen noch nicht ausgereift. Vergessen wird zudem leicht, dass sich Einstellungen schnell ändern können. Das macht die Segmentierung so schwer. Angesichts dieser Herausforderungen wächst der Druck auf die Marketing-Mitarbeiter massiv, da man von ihnen die richtigen Schlüsse aus den unzähligen Daten erwartet.

Und die Rolle der CIO?

Die CIO sollen jene sein, die sich der Risiken bewusst sind und die Marketiers mit Hilfe eines Regelwerks leiten.

Das Gespräch führte Wolfgang Franz. 

Henry Peyret:

Henry Peyret ist Principal Analyst bei Forrester mit dem Spezialgebiet Enterprise Architecture. Sein Forschungsgebiet umfasst die Themen Enterprise Application Integration, entsprechende Tools sowie Security-Aspekte. Er fokussiert zudem auf die europäischen Besonderheiten in den genannten Bereichen, hier vor allem im KMU-Segment. Peyret bringt 21 Jahre IT-Erfahrung mit. Vor Forrester war er unter anderem als Projektleiter im Bereich Telekommunikation und in der Automobilbranche tätig. Er ist Autor zahlreicher Publikationen.

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