Wer die Daten hat, schafft an

Sich in der IoT-Landschaft richtig zu positionieren ist eine Herausforderung. Die eierlegende Wollmilchsau für Connectivity und branchenübergreifende Use Cases gibt es nicht und wird es wohl auch nie geben können. [...]

Beta, Video 2000 und VHS – erinnern Sie sich noch an die Anfänge der Videorecorder? Verschiedene Formate unterschiedlicher Hersteller kamen auf den Markt und es war nicht von Anfang an klar, dass VHS zum einheitlichen Standard werden würde. Natürlich ist auch VHS längst Geschichte.
So wie damals bringen sich auch heute zahlreiche namhafte Player ins Spiel, schmieden Allianzen und buhlen um Nutzer ihrer Formate. Wer die Daten hat, schafft an. Wer es schafft, die eigene Technologie zum Standard zu entwickeln, bestimmt das Spiel im IoT. Die Herausforderung ist immer gleich: Wie gelingt es, das babylonische Sprachenwirrwarr unterschiedlicher Bauteile, Devices und Stakeholder miteinander zu verbinden und Datenaustausch zu ermöglichen? Doch die Lösungen sind äußerst unterschiedlich und variieren je nach Branche oder use case. 
Der Automotive Bereich ist ein gutes Beispiel: Die Fahrzeughersteller (OEMs) haben begonnen, Daten aus ihren Fahrzeugen auszulesen. Die längste Zeit wurden bloß „passive Daten“ ,wie Namen oder Adressen der Fahrzeugkäufer, gesammelt. Gelegentlich erhielten die Käufer eine Einladung zum Service oder der Präsentation eines neuen Fahrzeuges. Das ist Vergangenheit. Denn das Internet der Dinge erlaubt es nun, „aktive Daten“ teils in Echtzeit zu erhalten und auszuwerten. Daraus lassen sich höchst individualisierte Services entwickeln und gemeinsam mit Partnern wie Autovermietung, Ersatzteillieferanten oder Finanzdienstleistern neue Geschäftsmodelle realisieren. Aktuell haben die Fahrzeughersteller Datenhoheit durch den direkten Datenzugang auf die von ihnen hergestellten Fahrzeuge. Derzeit entscheiden sie, wer in der Sandkiste mitspielen darf und wer draußen bleibt.
Ein Automotive OEM könnte ein konkretes Fahrzeug anlassbezogen in eine ausgewählte Vertragswerkstätte einladen (freie Wahl der Werkstätte eingeschränkt), gleichzeitig einen Mietwagen eines bestimmten Verleihers anbieten (bezahlte Testfahrt vor dem nächsten Fahrzeugkauf) und einen spezifischen Versicherungsschutz empfehlen (der ev. gar nicht benötigt wird).
Rennen um Datenhoheit ist offen
Noch ist das Rennen um die Datenhoheit weitgehend offen. Das gilt natürlich für andere Branchen wie Home/Building, Industry Automation oder Agriculture ebenso. Wird sich die Zukunft zu einer zentralen, branchenübergreifenden und alles beherrschenden „Masterplattform“ zuspitzen? Gert Keuschnigg, ATLAS Co-Founder, arbeitet diesbezüglich auf europäischer Ebene: „Eine allumfassende Masterplattform, die alle IoT Anwendungen erfasst, wird es nicht geben; zu viel Monopol und Ineffizienz durch die Komplexität. Es wird zur Co-Existenz mehrerer IoT-Plattform-Allianzen kommen.“ Was bedeutet das nun für ein Unternehmen, welches smarte Produkte entwickeln möchte? Nach welchen Kriterien sollte eine individuelle IoT-Lösung oder Allianzmitgliedschaft entschieden werden? 
Eigenentwicklung: Die komplette Entwicklung einer eigenen Plattform ist natürlich denkbar, setzt aber entsprechendes Expertenwissen über Embedded, Protokollstandards, Connectivity und SW Development voraus. Umfassende eigene Personal-Kapazitäten sind unerlässlich.
Kauf: White-Label-Plattformen, die sich auf die eigenen Bedürfnisse anpassen lassen, reduzieren Kosten und Risiken, auch beschleunigen sie die Markteinführung. Spezifische use cases – auch gemeinsam mit weiteren Business-Partnern – sind idR. effizient und rasch abgebildet.
Teilnahme: Der Einstieg in eine IoT-Plattform-Allianz ist sinnvoll, wenn Unternehmen für sich alleine keine tauglichen Daten generieren können, die Wertschöpfungskette viele mitunter branchenübergreifende Unternehmen umfasst oder neue Geschäftsmodelle einheitliche Standards erfordern. Darüber hinaus hat ein Unternehmen eine ganze Reihe weiterer Fragen zu klären, um sich und die eigenen Produkte innerhalb der IoT-Landschaft zu positionieren. ATLAS hat dazu einen Check auf 4 Ebenen entwickelt:
1. Umfeld: Wo sind die Kunden sowie Produkte/Services positioniert? Eine eindeutige Zuordnung zu einem Umfeld kann schwierig sein, wie das Beispiel eines diversifizierten Rasenmäherherstellers zeigt: Ist das passende Umfeld die Landwirtschaft? Oder passen Rasenmähtraktoren ev. besser zu Fahrzeugen und damit Automotive? In welchem Umfeld ist ein Roboter-Rasenmäher für B2C zu sehen, wenn es bislang keinen „smart gardening“-Bereich gibt? Im Bereich des smart home?
2. Use Cases: Komplexere use cases erfordern die Verzahnung mit mehr Stakeholdern, häufig außerhalb der eigenen Branche. Für den Rasenmäherhersteller bedeutet dies: Soll sein Roboter-Rasenmäher in Zukunft das Gras auf Trockenheit und Nährstoffmangel überprüfen und dementsprechend die Bewässerung und die Düngung steuern sowie Düngemittel nachbestellen, so sind Schnittstellen zum Umfeld „Landwirtschaft“ zu schaffen – ebenso wie zu „Transportlogistik“ inkl. Billing.
3. Netzwerke und Middleware: Wie gelangen die Daten vom Kunden in eine IoT-Plattform? Nicht jedes Thing wird mit einer eigenen SIM ausgestattet. Vielmehr werden Geräte wie ein Smartphone oder ein WLAN-Router als hub verwendet, um das Web für eine Datenübertragung zu nützen. Immer spielen dabei Stromversorgung/Batterielebensdauer, Sendereichweite, Datenvolumen uä. eine entscheidende Rolle. Bei einem Rasenmäh-Roboter macht es Sinn, mittels eigener SIM den Zustand zu überwachen. Aber bei einem Heckentrimmer? Da reicht wohl ein Hub in der Garage oder das Smartphone, um nach getaner Arbeit gesammelte Daten zu übertragen.
4. Standards und Allianzen: Nun entwickelt ein Rasenmäherhersteller die erforderlichen Bauteile für eine Datenübertragung wohl kaum selbst. Unterschiedliche Standards und Allianzen teils globaler Anbieter versprechen Abhilfe. Internationale Player wie Google, Apple, Bosch oder Samsung bieten geeignete Technologien. Wie sonst auch im Leben kann man aber nicht alles haben. Wer im smart home Bereich auf Google nest setzt, schließt Apple home kit aus – und umgekehrt. Somit ist die richtige Positionierung auch strategisch äußerst relevant. Niemand will schließlich auf das falsche Pferd setzen.
Der Autor Oliver Loisel ist Co-Gründer der ATLAS Group (www.atlastech.de) und begleitet Unternehmen bei der Gestaltung und der Umsetzung von IoT-Strategien und Use Cases. Dieser Beitrag ist der vierte Teil seiner achteiligen Serie zum Thema »IOT – Strategie und Roadmap«, die Oliver Loisel exklusiv für die COMPUTERWELT verfasst.


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