„Wir haben 40 offene Stellen“

Um dem akuten Fachkräftemangel zu begegnen und Anreize für neue Mitarbeiter zu schaffen, hat Nagarro Österreich Geschäftsführer Damianos Soumelidis nicht nur ein ultramodernes Büro bezogen sondern auch diverse Ausbildungsprogramme etabliert. [...]

Damianos Soumelidis ist Country Manager von Nagarro in Österreich.
Damianos Soumelidis ist Country Manager von Nagarro in Österreich.(c) Nagarro

Nagarro ist vor Kurzem in ein neues Büro in Wien umgezogen. Hat nicht zuletzt die Anecon-Übernahme diesen Schritt nötig gemacht?

Wir sind jetzt knapp über 200 Mitarbeiter und haben nach der Verschmelzung mit Anecon deutlich mehr Platz benötigt. Seit April dieses Jahres haben wir rund 2.200 Quadratmeter am „Wiener Silicon Valley“ am Europlatz zur Verfügung. Das Büro ist jetzt sehr weitläufig und im modernsten Design, mit Glaswänden und organischen Materialien und vor allem viel Platz ausgestattet. Den Mitarbeitern stehen jetzt 450 Sitzplätze, verteilt auf weitläufige Arbeitszonen, in Form von Chat Rooms, Telefonboxen, Fokusräumen und Shared Desks, ausgestattet mit modernster Technologie, zur Verfügung.

Mit unserem neuen Büro wollen wir nicht zuletzt unseren Mitarbeitern auch zusätzliche Anreize schaffen, gerade nach der Übernahme der Anecon. Die Headhunter hatten sich geradezu auf unsere Anecon KollegInnen gestürzt als die Übernahme publik wurde. Die Zusammenlegung der Büros war für das gesamte Team ein enormer Kraftakt, aber notwendig, um den MitarbeiterInnen eine moderne und gut angebundene Infrastruktur zum Arbeiten anbieten zu können. Denn das braucht es einfach für unser globales Arbeitsmodell und für umfangreiche Kollaboration und Socialising.

Wie sieht dieses Arbeitsmodell konkret aus?

Das sind mehrere Ebenen. Wir arbeiten bei Nagarro sehr stark mit unseren internationalen Delivery Centern zusammen. Das hybride Liefermodell unserer Dienstleistungen sieht eine starke lokale Präsenz in den Geographien unserer Kunden vor. Um das Modell umzusetzen brauchen wir auch daher den Brückenkopf in Österreich. Mit 35 Mitarbeitern, die wir vor der Anecon-Übernahme waren, ging das einfach nicht mehr. Jetzt haben wir einerseits das starke lokale Team und zusätzlich unsere Shared Delivery Center. Wir haben in Österreich die Situation, dass die Kunden ihre Projekte gerne lokal fahren wollen und Shoring gerne in Anspruch nehmen, wenn es Sinn macht.

Nagarro hat es sich weltweit zum Ziel gesetzt eine möglichst flache Organisation mit ebenso flachen Hierarchien zu etablieren. Das bedeutet, dass wir bei Nagarro möglichst dezentralisiert und eigenverantwortlich arbeiten lassen. Wir haben – und das war sowohl für uns als Arbeitgeber aber auch für unsere KollegInnen der ehemaligen Anecon, die eine hierarchische Struktur gewohnt waren, ein wirklicher Klimmzug – ein Organisationsmodell mit möglichst wenig Reibungsverlusten implementiert, das Selbststeuerung und Eigenverantwortung vorsieht.

Wie kann man sich das im Arbeitsalltag vorstellen?

Wir sind in Teams, sogenannten „Circles“ organisiert. Diese Teams arbeiten autark. Es gibt Kundenteams, Projektteams, Supportteams und alle haben unterschiedliche Verantwortungsbereiche und Rollen. Jeder kann in jedem Circle arbeiten sofern es Zeit und Wissen erlauben. Das ist die Grundidee hinter unserer Philosophie. Wir haben am 27. Juni 2018 in einem Townhall-Meeting den Mitarbeitern das Modell vorgestellt und der ganze Saal war in einer ersten Reaktion begeistert. Frei nach dem Motto: „Endlich. Genau so wollen wir arbeiten.“ Allerdings braucht die Umsetzung eines kulturellen Wandels natürlich Zeit. Es gab sehr wohl Mitarbeiter, die sagten „Und was genau soll ich jetzt machen?“.

Die Umstellung der kompletten Organisation wirkt sich auf viele Bereiche aus. Allein schon bei der Definition des Worts „Karriere“. Wie kann sich die Karriere der MitarbeiterInnen in einem Umfeld, das so gut wie ohne Hierarchien auskommt, entwickeln? Heute gibt es bei uns Rollen und es ist keine Rolle „besser“ oder „höher“ als die andere. Wir mussten somit unser Karrierepfadmodell völlig neu bauen. Auch Themen wie „Wer ist mein Chef?“ oder „Wer genehmigt meine Urlaube und Spesen?“ sind Herausforderungen und mussten neu gedacht werden. Auch wie Arbeitszeit in einem selbstgesteuerten, eigenverantwortlichen Modell gelebt werden kann war eine interessante Frage. Im Übrigen ist diesbezüglich das Arbeitsrecht in Deutschland und Österreich für unser Modell nicht gerade förderlich, um es einmal vorsichtig zu formulieren.

Heute, ein Jahr später, funktioniert das Modell im Grunde sehr gut. Manche KollegInnen sind einfach losgestartet und haben es sofort verinnerlicht. Manche haben einfach weitergearbeitet und nachgefragt wenn sie auf Probleme stießen. Andere waren aber auch etwas verloren. Hier ist es wichtig, viele Mitarbeitergespräche zu führen, um Sorgen und Ängste langsam abzubauen.

Wie ist es um das Recruiting bestellt, Stichwort Fachkräftemangel?

Wir haben bei aktuell rund 200 Mitarbeitern in Österreich 40 offene Positionen, hauptsächlich Entwickler, Tester und Berater, und mit diesen Größenordnungen sind wir in guter Gesellschaft. Aus dem Grund ist die Branche bei der Selektion von Kandidaten mittlerweile auch nicht mehr so wählerisch wie vor zwei Jahren. Wir benötigen für die Umsetzung unseres Liefermodells allerdings nicht „nur“ Technikwissen, sondern mehrere Komponenten. Zum einen fähige KollegInnen, wie die eben genannten, aber auch Menschen, die Steuerungserfahrung im Projektumfeld haben, also Seniors, die verteilte, international besetzte Projektteams führen und steuern können.

Um bei der Besetzung schlagkräftiger zu werden und um die Einstellungsrate zu erhöhen, haben wir auch unser Recruiting verstärkt. Natürlich arbeiten wir auch, wie jeder andere, mit Headhuntern. Wir bieten unseren MitarbeiterInnen entsprechend ihres Wertes attraktive Konditionen und ein ganzes Set an weiteren Goodies. Es wäre aber kontraproduktiv, unverhältnismäßig hohe Gehälter zu zahlen, die das Gehaltsgefüge und nicht zuletzt den gesamten Markt komplett durcheinander bringen würden.

Ist das in den anderen Niederlassungen einfacher?

Die Situation im Near Shoring ist zwar etwas besser aber, so wie in ganz Europa, ebenfalls alles andere als rosig. In Rumänien haben wir etwa 250 Mitarbeiter, aber auch dort suchen wir intensiv, vor allem Seniors. Unsere Niederlassung befindet sich in einer Universitätsstadt mit vielen gut ausgebildeten jungen Leuten, aber das sind eben auch (noch) keine Seniors. In Indien ist die Situation besser, dort zeichnet sich allmählich eine ähnliche Situation ab. Auch dort ist es kein Selbstläufer mehr gute Leute zu finden. Der Bedarf ist auch dort groß, das Angebot dafür viel größer. In Indien suchen wir 900 Leute, aber dort finden wir sie zumindest etwas einfacher und vor allem schneller.

Somit besteht für die Wirtschaft in Österreich ein dramatischer Engpass an Leistungen zur Unterstützung der digitalen Transformation. Wir könnten die Situation etwas entschärfen, wenn wir Projekte mit Experten aus dem nicht-EU-Ausland unterstützen dürften. Jedoch ist das aktuelle rechtliche Rahmenwerk dermaßen stringent, sodass wir uns wirklich schwertun. Darunter leidet auch der gesamte Wirtschaftsstandort. Hier ist die Politik gefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Situation zu entschärfen. Es würde oft ja schon reichen, projektbezogen und kurzfristig, für zwei, drei Wochen jemanden zu bekommen, der dann auch wieder in sein Heimatland zurückkehrt.

Sie sind also zu internen Maßnahmen gezwungen?

So ist es. Wir nehmen also vermehrt FH- oder Uniabsolventen auf, denen zu Beginn natürlich Praxis und Projekterfahrung fehlt. Die muss erst erarbeitet werden. Wir haben schon seit einigen Jahren ein einjähriges Curriculum im Bereich Testing etabliert, weil Testen und Testautomatisierung auf den Unis und FHs so gut wie nicht unterrichtet wird. Entwicklung, Architektur und ansatzweise Requirement Engineering, aber eben viel zu wenig Testing und Qualitätssicherung. Das sind Disziplinen für sich. Um die Lücken im Bereich Entwicklung zu schließen starten wir im Herbst mit unserem Development Curriculum ein Angebot für wissbegierige und open-minded Kandidaten.

In den bereits aktiven Programmen können Mitarbeiter aus 25 Modulen wählen. Über mehrere Levels und einen Zeitraum von bis zu sechs Jahren kann man unterschiedliche Zertifizierungen erwerben, seine Skills erweitern und Praxiserfahrung in IT-Projekten sammeln. Das ist eine Maßnahme wie wir dem Fachkräftemangel begegnen. Aber das ist sicherlich kein Allheilmittel, das werden wir nur so nicht schaffen. Österreich muss sich endlich als Teil einer globalen, umfassend vernetzten Wirtschaft verstehen und dementsprechend den Arbeitsmarkt strukturieren

Denn, so wie die Digitalisierung voranschreitet, wird die Situation immer schlimmer. Es werden immer mehr Fachkräfte benötigt werden. Österreich bringt jährlich etwa 1.500 InformatikerInnen auf den Markt. Tendenzen eher weniger werdend, weil es auch viele „Job-Outs“ gibt, die ihr Studium abbrechen, um ohne Abschluss in den Job zu wechseln. Der Bedarf liegt zurzeit bei ca. 15.000 Experten, den wir aus der üblichen Ausbildung niemals decken werden können. Daher muss sich die Wirtschaft an flexibleren, nicht rein lokalen Leistungsquellen bedienen. Unternehmen müssen begreifen, dass das traditionelle Liefermodell „vor-Ort und deutschsprechend“ nicht mehr greifen kann.

Was sind ihre Forderungen an die Politik? Eine neue Regierung steht ja quasi vor der Tür?

Die Forderung an die Politik ist einfach die Ausbildung zu transformieren, um mehr gut ausgebildete Leute auf den Markt zu bringen. Und das heißt nicht, ihnen nur Programmieren beizubringen, sondern vor allem Problemlösungskompetenzen, Innovation und Analytik, also vor allem eigenständiges und grenzübergreifendes Denken. Die Wirtschaft braucht Menschen, die Problemstellungen verstehen, sie abstrahieren und dann Teams verständlich näher bringen können, wie Dinge letztendlich umzusetzen sind.

Um das zu erreichen muss man klotzen und nicht kleckern. Es braucht mindestens zwei Milliarden Euro die man in die umfassende und tiefgreifende Transformation der Ausbildung investieren muss. Und es kann mir keiner sagen, dass wir in einem Land wie Österreich dieses Geld nicht haben. Die Transformation muss schon in den Volksschulen und Gymnasien beginnen. Da muss man dann auch unbequeme, aber dringend notwendige Dinge tun, wie z.B. Lehrpläne ändern.

Außerdem muss es möglich werden, unter Einhaltung gewisser Rahmenbedingungen, Experten aus Ländern außerhalb der EU ins Land holen zu dürfen, und sei es nur für ein Projekt. Denn das EU-Inland wird ausgetrocknet sein.  Kurzfristig muss sich die Politik die Frage stellen, wie sie den Wirtschaftsstandort nachhaltig unterstützen wird, sodass der Bedarf an Experten gedeckt ist. Ich verstehe ja grundsätzlich den Schutz des Arbeitsmarktes. Aber wenn ich keine Leute hier habe, wen soll ich dann noch schützen? Ich kann keine Kassiererin oder einen Kassier einstellen damit er oder sie Java entwickelt.


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