„Wir leben im Zeitalter der Unmittelbarkeit“

Systeme, die auf künstlicher Intelligenz basieren, begleiten uns mittlerweile in vielen Bereichen des Alltags. Auch im Kundenservice gewinnt KI zunehmend an Bedeutung. Wie sie dort eingesetzt wird und worauf Unternehmen achten sollten, erläutert Matthias Göhler, CTO EMEA bei Zendesk, im Interview mit IT WELT.at. [...]

Matthias Göhler ist CTO EMEA bei Zendesk (c) Zendesk
Matthias Göhler ist CTO EMEA bei Zendesk (c) Zendesk

KI gewinnt immer mehr an Bedeutung, so auch im Kundenservice. Wie findet sich die Technologie in der Kundenbetreuung wieder?

Der wohl bekannteste Anwendungsfall von KI im Kundenservice ist ein Chatbot, wie er heute bereits auf vielen Plattformen und Webseiten im Einsatz ist. Ein Chatbot kann das Kundenservice-Team bei verschiedenen Aufgaben unterstützen, etwa wenn er simplere, wiederkehrende Anfragen eigenständig löst, indem er passende Inhalte und Lösungsansätze aus einer Wissensdatenbank vorschlägt. Bei komplexeren Problemen leitet der Chatbot den Kunden an ein Mitglied des für die jeweilige Anfrage am besten geeigneten Serviceteams weiter. Wir sehen derzeit einen klaren Trend hin zu einer größeren Bereitschaft, KI-basierte Chatbots in den Kundenservice einzubinden. Laut der CX Accelerator Studie von Zendesk geben 90 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sie Bots einsetzen, um die Kundschaft an die richtige Stelle leiten zu können. Laut einer aktuellen Prognose von Gartner werden Chatbots im Jahr 2027 für etwa ein Viertel aller Unternehmen der primäre Supportkanal sein.

Sind menschliche Serviceteams in Gefahr, ersetzt zu werden?

Eines vorweg: Ich glaube nicht daran, dass Chatbots die menschliche Kundenservice-Erfahrung in Zukunft vollständig ersetzen können. KI-basierte Chatbots können eine wertvolle Unterstützung für Teams sein, indem sie Routineaufgaben übernehmen. Dazu gehören beispielsweise das Sammeln von Kundeninformationen, die Analyse von Kundenabsichten und -stimmungen mithilfe von datengesteuerten Modellen, die Beantwortung häufig wiederkehrender Fragen sowie das Routing einer Anfrage an den passendsten Ansprechpartner. 

Das eröffnet dem Serviceteam mehr Kapazitäten für die Bearbeitung komplexer Probleme. Daraus ergibt sich eine Win-win-Situation: Die Kundschaft erhält einen qualitativ hochwertigeren Service, und das mit der Vielzahl von Anfragen oftmals überforderte Serviceteam wird entlastet. 

Langfristig vermute ich, dass es sich ähnlich wie bei der Einführung von Bankautomaten verhalten wird: Obwohl immer mehr Automaten aufgestellt wurden, nahm auch die Zahl der Bankangestellten weiterhin zu. Arbeitsplätze im Service-Bereich werden also aufgrund von KI nicht abgeschafft – sie werden sich verändern und zum Positiven weiterentwickeln.

Was sollten Unternehmen berücksichtigen, wenn sie KI im Kundenservice einsetzen wollen?

Der wohl wichtigste Faktor ist einfacher gesagt als getan: Bei der Einbindung von KI und anderen Automatisierungen im Kundenservice müssen Unternehmen eine klare Strategie verfolgen. Der CX Trends Report zeigt, dass weniger als die Hälfte der Führungskräfte genau das tut. Dennoch möchten mehr als 50 Prozent der Entscheider die Ausgaben für KI und Automatisierungsmaßnahmen erhöhen. Statt blind zu investieren, sollten Unternehmen überlegen, wo im Servicebereich eine Automatisierung durch KI den größten Mehrwert bringt. Geht es ihnen darum, die Produktivität der Mitarbeitenden zu erhöhen? Oder soll KI dabei helfen, Support auch außerhalb der Geschäftszeiten anbieten zu können? Der Einsatz von KI im Kundenservice sollte abhängig von Zielen sein, die strategische Entscheider im Vorfeld definieren müssen.

Ein oft genanntes Ziel sind Kosteneinsparungen durch Automatisierung. Dabei sollten Unternehmen darauf achten, das Service-Erlebnis ihrer Kunden nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Chatbot wird von der Kundschaft als eine Erweiterung des Supportteams angesehen. Er muss deshalb wie ein Service-Mitarbeiter agieren, den Ton des Unternehmens treffen und Emotionen sowie Stimmungen berücksichtigen. Daneben sollten Kunden immer die Möglichkeit haben, auch die Hilfe menschlicher Mitarbeiter in Anspruch zu nehmen. Denn welcher verärgerte Kunde möchte schon von einem Chatbot beruhigt werden? In jedem Fall müssen Unternehmen ihrer Kundschaft immer deutlich machen, wann die Service-Kommunikation mit einem Bot erfolgt. So können Kunden ihre Erwartungen an die Situation anpassen.

Wie können Unternehmen von KI im Service-Bereich profitieren?

Der nach meiner Einschätzung größte Vorteil ist das Potenzial, das Kundenerlebnis zu verbessern und so den gestiegenen Service-Erwartungen zu entsprechen. Wir leben im Zeitalter der Unmittelbarkeit. Viele Anfragen werden außerhalb von Geschäftszeiten gestellt und die Kundschaft erwartet auch dann eine möglichst schnelle Problemlösung: 35 Prozent der Personen würden die sofortige Antwort durch einen Bot der verzögerten Antwort eines menschlichen Mitarbeitenden vorziehen. Ein KI-basierter Chatbot kann auf Basis vergangener Anfragen rund um die Uhr eine Lösung vorschlagen oder auf weitere Informationen verweisen. Bots können Kundenanfragen erkennen und filtern, die auf eine besonders negative Verbraucherstimmung hindeuten. Diese werden dann priorisiert und schnellstmöglich von Service-Mitarbeitern bearbeitet. 

Kunden erwarten nicht nur einen Rund-um-die-Uhr-Service, sondern auch eine Omnichannel-Betreuung über verschiedene Kanäle hinweg. Angenommen, ein Kunde auf Geschäftsreise startet eine Support-Anfrage über eine Webseite, muss dann aber aus dem Zug aussteigen. Mithilfe von KI wird die Kommunikation auf mobilen Kanälen weitergeführt, etwa per E-Mail oder über WhatsApp.  

Außerdem können KI-basierte Chatbots dafür sorgen, dass Service-Mitarbeiter mehr Zeit für komplexere Anfragen haben und Kunden die bestmögliche Servicequalität bieten können.

Was sind Ihrer Einschätzung nach die derzeit wichtigsten KI-Trends?

Ein derzeit wichtiger Trend für die Weiterentwicklung von KI sind synthetische Daten, also künstliche generierte Daten, die auf Basis realer Daten generiert werden. Aufgrund diverser Vorteile wird erwartet, dass sie sich zukünftig zu der wichtigsten Datenquelle von KI entwickeln. 

Die meisten Forschungs- und Entwicklungsausgaben im Bereich KI fließen derzeit in sogenannte Large-Scale Language Models. Das GPT-3-Modell von OpenAI etwa erzeugt menschenähnliche Texte. Large-Scale Language Models verwenden enorme Datenmengen und öffnen so die Türe für unzählige neue Anwendungsfälle. Im Kundenservice könnte eine KI so eine Wissensdatenbank selbst verfassen und Support-Anfragen beantworten, die zuvor noch nicht gestellt wurden.


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