Wucht von Industrie 4.0 wird unterschätzt

Die digitale Transformation muss Chefsache sein und erfordert hohe Investitionen. Die IT alleine kann die Probleme nicht lösen. Zwei Studien zeigen Handlungsfelder auf. Laut McKinsey sind etwa 60 Prozent der Firmen schlecht auf Industrie 4.0 vorbereitet. [...]

Der Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung erscheint enorm. In Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) untersucht Roland Berger in der Studie „Die digitale Transformation der Industrie“ Ursachen für und Auswirkungen der Digitalisierung auf die Industrie in Deutschland und Europa und erkennt beträchtliche Defizite bei der digitalen Reife.

Neben Roland Berger bläst auch McKinsey in dieses Horn. McKinsey stellt in einer eigenen Studie „Industry 4.0 – How to navigate digitization of the manufacturing sector“ fest, dass sich nur sechs von zehn Unternehmen in Deutschland auf Industrie 4.0 gut vorbereitet fühlen. „Viele Unternehmen fangen erst jetzt an, sich konkret mit Industrie 4.0 auseinanderzusetzen“, sagt McKinsey-Berater Detlef Kayser. „Vorteile neuer Technologien wie 3D-Druck, Big Data und Internet der Dinge werden zu oft als Risiko und nicht als Chance, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, gesehen.“

DIE GRÖSSTEN HINDERNISSE FÜR INDUSTRIE 4.0
300 Entscheider aus Deutschland, Japan und den USA befragte McKinsey. Als größte Hindernisse auf dem Weg zur Industrie 4.0 wurden hierzulande das Wissen der Mitarbeiter, Datensicherheit und einheitliche Datenstandards gesehen. Knapp 60 Prozent aller Unternehmen würde ihre Systeme zwar outsourcen, 81 Prozent aber nur innerhalb Deutschlands. Für ein Drittel der Befragten kommt eine Auslagerung nur innerhalb Europas in Frage.

91 Prozent betrachten die Digitalisierung der industriellen Produktion als Chance. Von Angriffen aufs Kerngeschäft durch branchenfremde Konkurrenz – zum Beispiel aus der IT-Branche – rechnen in der Bundesrepublik hingegen nur rund 50 Prozent. In Japan sind es demgegenüber 63 Prozent, in den USA sogar 92 Prozent.

Diese Sorglosigkeit ist offenbar nur ein Teil des Problems. Laut McKinsey investieren deutsche Unternehmen nur 14 Prozent ihres jährlichen Forschungsetats in für Industrie 4.0 relevante Themen. Es klaffe eine zweifache Lücke: „Zum einen geben US-Unternehmen mehr als doppelt so viel Geld aus. Zum anderen sind die 14 Prozent auch ein Unterinvestment gemessen an den eigenen Umsatzerwartungen, da sich die deutsche Industrie im Durchschnitt ein Umsatzwachstum von 20 Prozent dank der neuen Technologien erhofft.“

Gemeinsame Initiativen und Standards innerhalb der Industrie könnten nach Einschätzung von McKinsey ein Weg sein, Vorteile von Industrie 4.0 zu realisieren. Genau dieses Rezept empfiehlt auch die Roland-Berger-Studie, um die Herausforderung der digitalen Transformation zu bewältigen.

Die Berater von Roland Berger prognostizieren bis 2025 ein zusätzliches kumuliertes Wertschöpfungspotenzial von 425 Milliarden Euro alleine in Deutschland durch die Digitalisierung der Industrie. Für Europa seien es sogar 1,25 Billionen Euro. Die möglichen Einbußen durch ein Misslingen der digitalen Transformation beziffert Roland Berger auf bis zu 605 Milliarden Euro europaweit.

DIGITALE REIFE IST NOCH WENIG AUSGEPRÄGT
Eine Umfrage unter 300 Top-Managern der deutschen Wirtschaft habe ein Erkenntnis- und Durchdringungsproblem offenbart, wird in der Roland-Berger-Studie ausgeführt. Nur gut die Hälfte der befragten Unternehmen habe sich intensiv mit dem Thema der digitalen Transformation beschäftigt. Lediglich ein Drittel der deutschen Unternehmen schätzt seine digitale Reife als hoch oder sehr hoch sein. „Immerhin 62 Prozent der Unternehmen mit einer EBIT-Marge von über 15 Prozent bescheinigen sich eine hohe oder sehr hohe digitale Reife“, heißt es in der Studie.

Nach Branchen betrachtet, liegen Chemie, Logistik und Energie vorne. „Das Schlusslicht in Sachen digitaler Reife bilden – nach eigener Einschätzung – viele mittelgroße Unternehmen der Elektroindustrie sowie des Maschinen- und Anlagenbaus.“ Konkret bedeutet das, dass sich Firmen aus diesen Branchen als besonders anfällig für Störungen durch digitale Technologie betrachten.

Als „Durchdringungslücke“ definiert Roland Berger die Differenz zwischen den Werten für die digitale Reife und der Relevanz für die eigene Branche. Mit 28 Prozentpunkten ist sie besonders ausgeprägt in der Energietechnik. Über 15 Prozentpunkten liegt sie außerdem in den Branchen Logistik, Automobil, Maschinen- und Anlagenbau sowie in der Elektroindustrie. „Viele Unternehmen scheinen im Hinblick auf ihre Anstrengungen zur digitalen Transformation falsche Schwerpunkte zu setzen“, kommentieren die Studienautoren. „Anstatt verstärkt auf die Entwicklung neuer Produkte und Kundenschnittstellen zu setzen, sieht ein Großteil das primäre Ziel in der Effizienzsteigerung.“

TIEFERES VERSTÄNDNIS
Europäische Unternehmen müssten ein tieferes Verständnis der digitalen Transformation entwickeln und neue, tragfähige Geschäftsmodelle erarbeiten, so die Berater. Sonst könnten branchenfremde Marktteilnehmer, die über eine hohe Digitalisierungskompetenz verfügen, sie aus lukrativen Teilen der Wertschöpfung verdrängen. „Ob vor einigen Jahren durch Amazon oder zuletzt Uber – diese Beispiele zeigen, wie radikal Marktumbrüche durch die digitale Transformation ausfallen können“, sagt Schaible. Auf dieses neue Wettbewerbsumfeld müssten sich Dienstleister und Industrie zügig einstellen. „Neue, unternehmensübergreifende Kooperationen sind hierfür nötig – durchaus auch mit Wettbewerbern, zum Beispiel bei der Pilotierung und beim Aufbau gemeinsamer digitaler Plattformen und Geschäftsmodelle“, erläutert Schaible.

Die Digitalisierung trifft die verschiedenen Branchen der europäischen Industrie laut Roland Berger zeitversetzt und unterschiedlich intensiv. Die Branchen Automobil und Logistik seien schon jetzt mit großer Wucht betroffen. Bis 2015 gebe es hier ein Wertschöpfungspotenzial von 445 Milliarden Euro.

Der zweiten Digitalisierungswelle mit Maschinen- und Anlagenbau, Elektroindustrie sowie Medizintechnik schreiben die Berater ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 630 Milliarden Euro zu. 175 Milliarden sind es in einer dritten Welle für Chemieindustrie und Luftfahrttechnik.

Die Unternehmensspitze sollte die digitale Reife des Unternehmens in den Mittelpunkt der Strategie rücken, rät Roland Berger. Digitalisierung sei Chefsache. „Die Techniker, selbst jene aus den IT-Abteilungen, müssen an die digitale Zukunft herangeführt werden“, heißt es weiter in der Studie. „Sie sind vielfach für Instandhaltung und Verbesserung bestehender Systeme ausgebildet und eingesetzt und sollten die Chance erhalten, neue Wege zu entdecken.“ (idg)


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