Ich besitze einen privaten Account, der ausschließlich den Aussendungen von IKT-Anbietern gewidmet ist. Er ist ein Gradmesser dafür, in welcher Phase der digitalen Transformation sich die Branche gerade befindet, die ja bekanntlich auch neue Formen der Kommunikation verlangt. [...]
Montag, 26. Februar 2018. Der Tag in der IT-Branche beginnt früh. Um 3:36 fragt Hildebert Ingersleben per Mail, ob ich überall Schmerzen hätte. Er habe für mich eine „tragbare Matratze mit Wärmematratze“, was auch immer das bedeuten soll. Dann kommen die Mails jener fürsorglichen Zeitgenossen – Amanda, Elfriede und Benedikta –, die sich um meinen Nagelpilz kümmern wollen, obwohl keine Notwendigkeit dafür besteht. Es folgen Tipps im Fall von lautem Schnarchen, das Angebot einer Flutlichtanlage für Haus und Garten, Sonnenbrillen mit schwarzen Gläsern, ein „powerstarkes Klebeband“, das alles verklebt. Gegen 8 Uhr endlich will eine gewisse Raimunde wissen: „Hat Hund Karre gekratzt?“ Wir haben keinen Hund und eine „Karre“ schon gar nicht.
Spam verfolgt mich seit meinem ersten E-Mail-Account – Spam-Filter hin oder her. Schon vor mehr als 20 Jahren sollte ich mir unbedingt eine innovative Gartenschere ansehen oder der jungen Russin antworten, die sich angeblich in mein Foto verliebt hat. Was ich mich immer wieder frage: Warum sind die Spam-Mails über den langen Zeitraum hinweg nicht besser geworden? Man liest immer wieder von zielgerichteter Werbung, personalisiertem Marketing, detaillierten User-Profilen, die für viel Geld gehandelt werden. Das meist hässlich gelayoutete Gestammel, das ich Tag für Tag erhalte, hat mit meiner Lebenssituation nichts und mit der deutschen Sprache nur sehr wenig zu tun. Dafür haben die Matratzen-Mails das Zeug dafür, die weltweiten Datenleitungen und Postfächer zu verstopfen. Dem „Symantec Intelligence Report“ zufolge betrug der Anteil an Spam-Mails im Dezember 2017 rund 55 Prozent. Eine echte Herausforderung, wenn man bedenkt, dass etwa die Erweiterung eines Postfachs in der öffentlichen Verwaltung von 110 MB auf 190 MB mit organisatorischem Aufwand und Bittgesuchen verbunden ist. Wohlgemerkt: Wir haben das Jahr 2018, in dem die kleinste Speichereinheit eigentlich Gigabyte heißen könnte. Die Folge: Der Montag wird gerne dafür verwendet, das Postfach aufzuräumen, um beim nächsten Mail mit einer PowerPoint-Präsentation im Anhang nicht die Kapazitätsgrenzen zu sprengen.
Die Welt der Bilder
Gegen 9 Uhr wird es endlich ernst, die PR-Agenturen und -Abteilungen beginnen mit ihrer Arbeit. Sie lassen eine wunderbare Welt glücklicher Unternehmen, dankbarer Mitarbeitern und fröhlicher Kunden entstehen. Ich bin froh, in einer Branche zu arbeiten, in der sich alle lieb haben.
Bemerkenswert ist auch, wie viele Unternehmen, von denen ich Aussendungen bekomme, Weltmarktführer sind. Hilfreich ist, dass Marktforscher ihren Untersuchungsgegenstand sehr genau unter die Lupe nehmen und einen dementsprechend hohen Grad an Differenzierung erreichen, wodurch wiederum viele neue Kategorien entstehen. Damit steigt die Chance, in seinem eigenen Bereich bis an die globale Spitze zu klettern, da die Konkurrenz dünn gesät ist.
Auffällig ist zudem, wie viele Presseaussendungen hereinkommen, die weder Fotos mitschicken, noch einen Link zu Bildmaterial haben, wobei letztere Lösung natürlich die weitaus klügere wäre. Das ist insofern beachtenswert, als satte 60 Prozent der Gehirntätigkeit ausschließlich dem Wahrnehmen, Verarbeiten und Speichern von Bildern gewidmet sind, wie Karl Gegenfurter, Sebastian Walter und Doris Braun in dem Artikel „Visuelle Informationsverarbeitung“ schreiben. Der Spruch „ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ kommt nicht von ungefähr.
Selbst Unternehmen, die ihren Aussendungen (direkt oder über eine Agentur) Bildmaterial beigeben, lassen erahnen, dass die Budgets eher in die Produktion von Texten fließen als in Fotos. Von einem Geschäftsführer gibt es da und dort sehr gute Portraits, bei Mitarbeitern vom C-Level abwärts kommt maximal ein Passfoto – bei Weltmarktführern ist das nicht anders.
Es gibt natürlich sperrige Themen, die sich schwer „bebildern“ lassen, wie Big Data oder das fünfzigste Security-Update. Es liegt auch daran, dass Unternehmen meist auf die Expertise von Spezialisten verzichten, die sich Tag für Tag mit diesem Thema beschäftigen: Fotografen. Diese engagiert man nicht, weil sie den Auslöser betätigen können (dazu sind alle Besitzer eines beweglichen Zeigefingers in der Lage), sondern weil sie gelernt haben, in Bildern zu denken. Was für den einen bloß eine alte Frau ist, die im Park sitzt, ist für einen guten Fotografen eine Geschichte der Einsamkeit oder der Hoffnung. Je nach Fokus wird er die Perspektive und das Licht wählen, um seine Geschichte zu erzählen. Alle anderen machen nur Fotos. Es ist also paradox, in einer Zeit, die verstärkt über Bilder kommuniziert und gute Geschichten braucht, das Budget für professionelle Fotografen zu kürzen oder komplett zu streichen. Und Österreich besitzt eine Menge ausgezeichneter Fotografen.
Und wo bleibt der digitale Wandel?
Vor ein paar Jahren war es der Wolken-Hype, der aus jeder Firma, egal ob Hardware-Hersteller oder Softwareschmiede, einen Cloud-Spezialisten gemacht hat. Heute ist es der digitale Wandel. Ich kenne kein IKT–Unternehmen, das nicht Experte für dieses Thema wäre. Gleichzeitig muss man beobachten, dass die Art, wie man heute in der Öffentlichkeit kommuniziert, sich kaum von jener vor 20 Jahren unterscheidet. Es sind die gleichen technischen Superlative, dieselben Versprechen und die gleichen seelenlosen – weil „PR-optimierten“ – Statements.
Was bei der Cloud noch gegangen ist, da man das Thema sehr gut rein technologisch betrachten kann, ist bei der Transformation fehl am Platz, da sie weit über die technologische Ebene hinausgeht. Betroffen ist die gesamte Organisation und jeder einzelne Mitarbeiter. Der Wandel hat Auswirkungen darauf, wie wir Informationen sammeln, sie weitergeben oder wie wir in Teams miteinander kommunizieren. Ein wesentlicher Aspekt ist die Offenheit in der Kommunikation.
Genau hier tut sich ein weiteres Paradoxon auf: Jene Unternehmen, die mit ihren Lösungen die technische Grundlage für die digitale Transformation schaffen und implizit fordern, dass sich die User in ihrer Art zu arbeiten und zu kommunizieren an die neuen technischen Möglichkeiten anpassen sollen, um überhaupt von einer erfolgreichen Integration reden zu können, gestalten ihre eigene externe Kommunikation wie eh und je. Von Transformation und offener Kommunikation kaum eine Spur.
Es gibt eine Textsorte, die sich für die Beschreibung des Wandels perfekt anbieten würde – zumindest theoretisch: Referenzgeschichten. Doch auch hier hat die praktische Umsetzung einen Haken. Niemand liest gerne den detaillierten Sportbericht eines ungefährdeten Start-Ziel-Sieges. Niemand konsumiert gerne einen Film, in dem der Held widerstandslos seine Ziele erreicht. „Erfolgsgeschichten“ der IT-Branche sind in der Regel genauso aufgebaut. Sie missachten das einfache Prinzip jeder guten Geschichte, die aus der erfolgreichen Lösung von Konflikten besteht. Ohne Konflikt kein Erfolg. Konflikte bei der Umsetzung von Digitalisierungsprojekten gäbe es jedenfalls zu genüge.
Menschenzentrierter Ansatz
Sie existieren natürlich, die IT-Unternehmen, die ihre externe Kommunikation mit der digitalen Transformation verändern. Sie haben begonnen, ihre Welt in Geschichten zu verpacken, um Komplexes einfach und Technik erlebbar zu machen. Aus ihnen sprechen der Respekt gegenüber menschlichen Bedürfnissen und die Offenheit, was die Grenzen des technisch Machbaren betrifft. Sie reden nicht nur davon, „den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen“, sondern tun es auch – den Entwickler, den Partner oder den einzelnen Anwender. Und das tun sie, indem sie ihn zeigen, ob mit hervorragendem Bildmaterial oder Video. Zu wünschen ist, dass sich dieser humane Ansatz, der Teil jeder Transformation sein muss, demnächst herumspricht und mein IKT-Postfach zu einem Ort macht, an den ich gerne zurückkehre.
Dieser Artikel ist ursprünglich in transform! 3/2018 erschienen, dem Magazin für den digitalen Wandel.
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