Warum der Wandel so schwer fällt

Um die digitale Transformation auf Schiene zu bringen, braucht es neben den technologischen Voraussetzungen einen massiven Kulturwandel. Was wäre da verlockender, als traditionelle Prozesse und Routinen komplett durch neue zu ersetzen? [...]

Routinen setzen sich bis zum Tode fort, weil sie als positive Variante ein Erfolgsrezept sind, um den Blick auf die wesentlichen Dinge im Leben frei zu haben. (c) BillionPhotos.com – stock.adobe.com
Routinen setzen sich bis zum Tode fort, weil sie als positive Variante ein Erfolgsrezept sind, um den Blick auf die wesentlichen Dinge im Leben frei zu haben. (c) BillionPhotos.com – stock.adobe.com

Der 22. Jänner 1984, Super Bowl XVIII in Tampa, Florida. Beim Endspiel der National Football League der Saison 1983 stehen sich die Washington Redskins den Los Angeles Raiders gegenüber. Das Bemerkenswerte dieses Events: In der Pause läuft ein einminütiger Werbespot, in dem in einer farblosen, düsteren Welt ein Heer ausdrucksloser Arbeiter vor einem riesigen Bildschirm steht und den Worten des „Großen Bruders“ lauscht. So lange, bis eine junge Frau mit ihrem Vorschlaghammer den Bildschirm zerstört und dem Licht zum Durchbruch verhilft. Die Vorlage zu diesem Werbefilm: Der Roman „1984“ von George Orwell. Der Regisseur: Ridley Scott, berühmt durch Filme wie „Alien“ und „Blade Runner“. Der Auftraggeber: Steve Jobs, der Visionär mit dem angebissen Apfel.

Der Spot gilt als ein Meilenstein in der Geschichte der Werbebranche. Bei ihm geht es nicht wie üblich darum, die Vorteile eines Produkts gegenüber dem Mitbewerb anzupreisen (hier der erste Macintosh), sondern um die Zerstörung einer Welt, die der damals übermächtige Konkurrent IBM repräsentierte (heute agiert „Big Blue“ natürlich vollkommen anders): Ein ödes, graues Universum, in dem die „EDV-Leiter“ noch weiße Mäntel trugen, darauf die Flecken des geschmacksbefreiten Mensa-Essens.

Spielregeln auf den Kopf stellen

Der 1984-Spot illustriert auch sehr schön, was heute unter der Bezeichnung „Disruptive Thinking“ läuft. Hier geht es nicht darum, das Maximum aus einem definierten Regelwerk herauszuholen, sondern die Spielregeln zu ändern. Das kongeniale Duo Jobs & Scott hat das gleich auf zweifache Weise getan: Einerseits haben die beiden nicht nur Produkte gegenübergestellt, sondern Unternehmenskulturen. Andererseits hat der Spot mit seiner einminütigen Laufzeit, in der sie die Kernaussage eines Romans nacherzählt und in einen neuen Kontext gehoben haben, die Grenzen traditioneller Fernsehbotschaften gesprengt, die sich üblicherweise im Sekundentakt abspielen.

Es ist natürlich verlockend, die hier vermittelten Bilder auf die digitale Transformation und den damit verbundenen Kulturwandel anzuwenden. Auf der einen Seite steht die alte, dunkle, verstaubte Welt, auf der anderen Seite die neue, helle. Und mit einem Vorschlaghammer schafft man den Wechsel im Handumdrehen.

So simpel die Theorie, so falsch ist sie auch beim Thema Change Management. Die alte Welt mag verstaubt sein, aber sie hat über eine lange Zeit zwei fundamentale Dinge erarbeitet: Erfolg (wenn es nicht so wäre, wären die traditionellen Unternehmen nicht mehr am Markt) und Erfahrung, die sich unter anderem in der Routine äußert – ein Aspekt, der für das Überleben des Einzelnen und von Gruppen von entscheidender Bedeutung ist.

Routinen als Orientierungshilfe

Das Wort „Routine“, das aus dem Französischen stammt und „Wegerfahrung“ bedeutet, bezeichnet Fähigkeiten, die dadurch erworben werden, dass sie über einen gewissen Zeitraum gleich wiederholt wurden. Das führt dazu, dass diese Handlungen sicher und schnell ausgeführt werden können. In Tierversuchen wurde zudem festgestellt, dass das Gehirn viel weniger Energie benötigt als bei Aktionen, die immer wieder von neuem durchdacht werden müssen – Energie, die man anderswo viel besser nutzen kann.

Die Entwicklung von Gewohnheiten beginnt schon nach der Geburt. „Das Baby sucht Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung und bildet Erwartungen, wie die Welt funktioniert. Es ist ein Grundbedürfnis jedes Babys, Regelmäßigkeiten zu entdecken“, so die Psychologin Renate Barth. Je klarer die Struktur ist, umso sicherer fühle sich das Baby. Denn es wisse: Wenn das eine geschieht, folgt das andere.

Routinen setzen sich bis zum Tode fort, weil sie als positive Variante ein Erfolgsrezept sind, um den Blick auf die wesentlichen Dinge im Leben frei zu haben. Man stelle sich nur vor, dass der Vorgang des Schuhbindens immer wieder von neuem durchdacht werden müsste. Der pünktliche Schulbesuch oder das erste Meeting wären damit ernsthaft in Gefahr. Selbst Menschen, denen man auf Grund ihres genialen Outputs eine chaotische Lebensführung zutrauen würde, setzen gerne auf gewohnte Abläufe. Beispiel Wolfgang Amadeus Mozart: Sein Tag war viel stärker strukturiert als es zeitgenössische Filmemacher für gewöhnlich vermitteln.

Was für das Individuum gilt, trifft auch auf Teams und ganze Organisationen zu. Routinen erleichtern das Berufsleben und die Zusammenarbeit ungemein. Sie schaffen Sicherheit und Vertrauen. Man braucht sich nur vergegenwärtigen, wie automatisiert Tätigkeiten etwa in der Notfallhilfe oder beim Katastrophenschutz ablaufen. „Organisationen lieben Gewohnheiten. Organisationen, welcher Art auch immer, sind konservativ – und sie müssen es sein. Denn sie geben den Aktivitäten einer Gruppe von Menschen einen klaren Rahmen, eine bestimmte Ausrichtung“, schreibt Bernhard von Mutius in seinem Buch „Disruptive Thinking – Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist“. In diesem Sinn sind Organisationen also bereits seit jeher automatisiert. Das gilt es zu bedenken, wenn ein Digitalisierungsberater verspricht, das ultimative Automatisierungsprojekt auf die Beine zu stellen.

Geliebtes Hamsterrad

Gewohnheiten, positive wie negative, haben einen gewaltigen Nachteil: Sie lassen sich nur sehr schwer ändern. Ein Grund dafür findet sich in der Beschaffenheit von Routinen. Am Anfang steht der Auslöser („Trigger“), dann folgt die Handlung („Action“) und am Ende – der wichtigste und am meisten unterschätzte Part – gibt es die Belohnung („Reward“), die etwa in dem befriedigenden Gefühl besteht, es wieder einmal ohne großen Aufwand geschafft zu haben. Das heißt: Wer Gewohnheiten ändert, bringt das liebgewonnene Belohnungssystem in Unordnung, worauf Menschen in der Regel gereizt reagieren.

Wenn es nun zur digitalen Transformation kommt und der Ruf nach Innovation und Kulturwandel laut wird, trifft man in der Regel auf eine Mauer des Schweigens oder der offenen Ablehnung. Was man schnell als Trägheit der Belegschaft oder generelle Aversion dem Neuen gegenüber abtut, hat meist tiefer liegende Gründe. Denn der Wandel, der sich in allen Branchen und Lebensbereichen breitmacht, lastet auf jeden einzelnen schwer. „Der Druck nimmt zu. Von allen Seiten. Der Marktdruck, der Ergebnisdruck, der Zeitdruck, vor allem und immer wieder der Zeitdruck. Aber auch der Druck von oben, der Druck der Kollegen und manchmal auch der Druck von unten“, so Bernhard von Mutius.

Das bedeutet: Die Menschen wollen gar nicht raus aus ihrem Hamsterrad, vor allem wenn der Druck zunimmt. Hamsterrad steht unter anderem für routinierte wie ergebnislose Meetings und zahllose nichtsagende PowerPoint-Präsentationen, die stets nach dem gleichen nutzlosen Schema ablaufen. Das heißt: Routinen und Gewohnheiten sind per se nichts Negatives. Sie geben Orientierung und erleichtern die Arbeit. Müssen diese aber geändert werden wie bei der digitalen braucht es den Aufbau neuer Routinen inklusive Belohnungssystem, was bei Change-Management-Projekten nicht selten unter den Tisch fällt.

Dieser Artikel, verfasst von Wolfgang Franz, ist ursprünglich in transform! 1-2/2018 erschienen, dem Magazin für den digitalen Wandel.

 


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