Warum die beste Lösung nicht immer die optimale ist

Das 19. Jahrhundert war geprägt durch Wettrennen konkurrierender Technologien. Das Beispiel der Straßenbeleuchtung zeigt, dass es nicht immer zum Wohl der Betroffenen ist, wenn man das Maximum aus einer Technologie herauszuholen versucht. [...]

Bogenlichter waren so hell, dass man nachts bequem Zeitung lesen konnte. Wer direkt hineinblickte, musste mit gesundheitlichen Schäden rechnen. (c) Siemens
Bogenlichter waren so hell, dass man nachts bequem Zeitung lesen konnte. Wer direkt hineinblickte, musste mit gesundheitlichen Schäden rechnen. (c) Siemens

Ein gewisser Carl von Frankenstein, seines Zeichens Erfinder und Redakteur des allgemeinen Industrie- und Gewerbeblattes in Graz, hat am 31. Juli des Jahres 1842 im Gasthofe zum goldenen Kreuz auf der Wiedner Hauptstraße zu Wien „in Gegenwart der Inhaber der bedeutendsten Gast- und Kaffeehäuser“, so ein zeitgenössischer Bericht, eine Probe seines Könnens abgegeben. Die eine Erfindung, die er an jenem Tag präsentierte, nannte er „Lunarlicht“: „Ein völlig geruchloses, blendend weißes Licht von eigentümlicher magischer Wirkung, das aus „der nicht leuchtenden Flamme des Weingeistes ohne Zusatz irgendeiner anderen Substanz bei Verwendung gewöhnlicher Lampen“ entstand. Die andere Erfindung Frankensteins war eine Ölflamme, „die um das Zwei- bis Dreifache ihrer Lichtintensität gesteigert“ werden konnte, „und dass das so erhaltene Licht„, so der Bericht weiter, „an Helligkeit und Weiße nicht nur jede andere Ölflamme, sondern auch selbst das Gaslicht an Glanz und Schönheit“ übertraf. Der Name: „Solarlicht“.

Carl von Frankenstein war ein typischer Vertreter einer endlosen Reihe von Erfindern und Ingenieuren, die gleichsam als Priester des damaligen Fortschrittglaubens für unerhörte technische Errungenschaften sorgten. Im Fall des künstlichen Lichts ging es stets darum, die Intensität zu steigern – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie lange ein Ort wie Wien nächtens mehr schlecht als recht beleuchtet war. Das Motto des 19. Jahrhunderts lautete also: Je heller, desto besser – und billig sollte es auch sein, da die Budgets der öffentlichen Hand genauso beschränkt waren wie heute.

Von Gas zu Strom

Eine gewisse Zäsur in der Geschichte der heimischen Straßenbeleuchtung brachte die Einführung des Gaslichts. Die ersten Gasstraßenleuchten wurden 1818 installiert, die nach und nach die über lange Zeit vorherrschenden Laternen ersetzten, die unter anderem mit einer Mischung aus Leinöl und Schweinefett gefüllt waren.

Das ging so lange gut, bis ab 1850 mit der Industrialisierung der Elektrizität wesentlich bessere Systeme auf den Markt kamen. Im Prinzip waren es zwei, die es in den unterschiedlichsten Ausformungen gab: das Glühlicht und das Bogenlicht. Während das Glühlicht bereits Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgreich getestet, aber erst Jahrzehnte später durch Thomas Edison zur Marktreife gebracht wurde – was die weltweite Verbreitung in Gang setzte –, war das Bogenlicht nur eine Episode der Technikgeschichte, obwohl sie das Potenzial zu viel mehr hatte.

Bogenlicht funktioniert bekanntlich so: „Bringt man in dem Schließungskreis eines elektrischen Stromes zwei Kohlenstäbe miteinander in Verbindung, so erwärmen sich dieselben an der Berührungsstelle. Bei genügend hoher Spannung und Stromstärke steigt die Temperatur bis zur Weißglühhitze, und es findet eine lebhafte Lichtentwicklung statt. Entfernt man nun die beiden Stäbe voneinander, so wird die Lichtwirkung stärker, indem sich zwischen denselben eine leuchtende Brücke, der sogenannte Lichtbogen bildet“, so ein zeitgenössisches Lehrbuch.

Die Begeisterung über diese Technik war zu Beginn grenzenlos. Ein Bericht von der „Internationalen elektrischen Ausstellung“ in Wien des Jahres 1883 unterstrich die Überlegenheit des Bogenlichts: „Während Glühlichtlampen von mehr als 20 Kerzen Lichtstärke zu den äußersten Seltenheiten gehören, findet man in der ganzen Ausstellung keine Bogenlampe unter 500 Kerzen Leuchtkraft, dafür aber sehr viele von 1.000 und etwa 40 von mehr als 4.000 Kerzenstärke.“

Messungen ergaben, dass das Bogenlicht annähernd die gleiche spektrale Zusammensetzung wie das Tageslicht hat und auch im Auge die für das Tageslicht bestimmten Zapfen aktiviert wurden, während mit Gaslicht die für die Nacht verantwortlichen Areale aktiv wurden. Die Folgen: Die Straßen wurden durch Bogenlicht so hell, dass man bequem die Zeitung lesen konnte. Der Erfinder und Namensgeber der Automarke Tesla, Nikola Tesla, freute sich bei seinen Experimenten mit Bogenlicht, dass sein Gesicht schneller bräunte als bei Gebirgswanderungen. Das Thema fand auch Eingang in die romantische Literatur. Als Beispiel der emotionale Höhepunkt des Gedichts „Elektrische Träumereien“:

„Und reichst Du mir das Händchen dar
Zum frohen Bunde Hymens,
So glänzt mein Leben freudenklar
Wie Bogenlicht von Siemens.“

Bogenlampen hatten jedoch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Man konnte nicht direkt in den Lichtkern blicken, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen. So gab es Fälle von Nachtblindheit, Entzündung und Schwellung der Bindehaut, Lichtscheue, Lidkrampf und schließlich Gerinnung des Eiweißes in der Netzhaut. Kurz: Das Bogenlicht konnte nicht an der Position der Gaslaternen montieren werden, es musste aus dem Blickfeld der Passanten gebracht werden, um eine brauchbare Straßenbeleuchtung abzugeben. Das war die Geburtsstunde der sogenannten Lichttürme, welche die Blendung vermieden und zusätzlich den Vorteil hatten, größere Bereiche zu erhellen. Damit ließe sich auch eine Menge Geld sparen. Eine perfekte Lösung also, die das Motto jener Zeit – je heller, desto besser – scheinbar optimal erfüllte.

Als in Paris anlässlich der Weltausstellung im Jahr 1889 ein Wettbewerb für ein monumentales Bauwerk ausgeschrieben wurde, kamen zwei Vorschläge in die engere Wahl. Der heute weltberühmte Turm des Brückenbau-Ingenieurs Gustave Eiffel sowie der „Sonnenturm“: eine Granitsäule von 16 Metern Durchmesser und einer Bogenlichtanlage in 66 Metern Höhe.

Der Sonnenturm

Darüber war ein Reflektor geplant, der das Licht in weiten Kreisen verteilen sollte und – unterstützt durch weitere, über das ganze Stadtgebiet verteilte Reflektoren, die das Licht „bis ins Innere der Häuser und Wohnungen“ bringen sollte, so die Unterstützer dieses Plans. Eiffel selbst dachte darüber nach, seinen Turm mit einer Bogenlichtanlage zu versehen, wobei man in diesem Fall drei oder vier Türme gebaut hätte, um bei einem technischen Gebrechen nicht auf einen Schlag die gesamte Stadtbeleuchtung zu verlieren.

Die einzige Großstadt der Welt, die ein durchgängiges Leuchtturmsystem realisierte, war Detroit. Das komplette Stadtgebiet wurde mit Hilfe von 122 Türmen beleuchtet, die jeweils rund 50 Meter hoch und in einem Abstand zwischen 350 und 400 Metern aneinander gereiht waren, in den Außenbezirken bis zu einem Kilometer. So angeordnet erzeugte das Bogenlicht-System „Lichtbezirke“ oder „Lichtgürtel“.

Doch schon 30 Jahren später wurden in Detroit alle Eisenkonstruktionen demontiert und auch in Paris setzte sich die weniger helle Lösung des Glühlichts durch. Was war passiert?

Zerstörung einer Kultur

Die Straßenbeleuchtung besaß stets eine politische Komponente. So kam es im Zuge der französischen Revolution (und später im Revolutionsjahr 1848) zur massenhaften Zerstörung der Laternen, da sie der Inbegriff der Herrschaft waren, während Dunkelheit ein Stück Unordnung und Freiheit repräsentierte (das unter Herrschern und Beamten gefürchtete „Laternisieren“ stand ebenfalls in diesem Zusammenhang). In moderner Terminologie war die Straßenbeleuchtung während der industriellen Revolution Ausdruck des „Überwachungsstaates“ und damit stets potenzielles Opfer der Unzufriedenheit unter den Bewohnern – je heller, desto anfälliger.

Ein weiterer Aspekt spielte eine Rolle bei der Entscheidung zugunsten des Glühlichts. Als der Einsatz des Bogenlichts in Paris diskutiert wurde, herrschte gerade eine Kulturära, die wir heute „Belle Époque“ nennen. Paris war gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Ort der Boulevards, der Cafés und Cabarets, der Ateliers und Galerien, ein Ort des Emile Zola und Henri de Toulouse-Lautrec, des Moulin Rouge und des Cancan. Licht spielte in Paris eine dominierende Rolle – Woody Allen hat mit „Midnight in Paris“ dem Nachleben der Seine-Metropole ein filmisches Denkmal gesetzt –, doch war es ein glitzerndes, magisches Licht, das die Kultur der Nacht bestimmte, nicht die Flutlichtanlagen des Bogenlichts. Zeitgenössische Berichte von Testinstallationen auf den Straßen zeigen es deutlich: Die Damen, die im Bogenlicht von „leichenhafter Gesichtsfarbe“ waren, spannten mitten in der Nacht ihre Sonnenschirmchen auf, die Vögel fingen zur Unzeit zu singen an – kurz: Das Bogenlicht zerstörte den Zauber der Nacht.

„Wenn die Möglichkeiten, die eine neue Technik offeriert, bis zur letzten Konsequenz verfolgt werden, entsteht oft etwas, das wie als technischen Monumentalismus bezeichnen wollen, im Unterschied zur praktischen Anwendung einer Technik“, schreibt der Kulturwissenschafter Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Lichtblicke“. Die Folge der Einsicht der Verantwortlichen war, dass sich letztendlich das Glühlicht durchsetzte – auch in Wien. Hier waren bloß einige repräsentative Straßen im Zentrum der Stadt testweise mit der monströsen Bogenlicht-Lösung bestückt, die Reaktion im Publikum war zurückhaltend. Überhaupt schleppte sich die hiesige Elektrifizierung mehr schlecht als recht dahin, was dazu führte, dass die letzte Gaslaterne Bürgermeister Franz Jonas im Jahr 1962 löschen durfte.

Welche Lehren lassen sich daraus für die Transformation ziehen?

Bringt die digitale Transformation Technologiemonster hervor? Ein möglicher Kandidat ist natürlich die Künstliche Intelligenz, die das Zeug dazu hat, Ungetüme mit Bewusstsein zu schaffen – analog zu Frankensteins Kreatur, die durch Elektrizität zum Leben erweckt wurde.

Der technische Monumentalismus findet sich auch in weit profaneren Bereichen wieder. Namhafte Hersteller treiben mit ihrem Hang, die Funktionalität und Komplexität ihrer Software-Suiten wie Türme in den Himmel wachsen zu lassen, nicht nur für Verdruss bei den Anwendern, sondern auch für die langsame, aber stetige Zerstörung einer Unternehmenskultur, die gleichsam in dem grellen Licht funktionsschwangerer Lösungen verdampft. Die Wiener Kaffeehauskultur wird durch die Atmosphäre und die persönliche Betreuung geprägt – nicht immer optimal, aber stets bemüht –, nicht durch die Möglichkeit, den kleinen Braunen oder Melange mittels App zu bestellen.

Es gilt daher, ein Mittelmaß zu finden, das die Vorteile beider Welten, analog wie digital, vereint. Im 19. Jahrhundert war es das Glühlicht, das ausreichend Licht spendete, ohne aber wie beim Bogenlicht den Charme des Nachlebens zu zerstören. Heute ist es der maßvolle Einsatz von Technologie, der dafür sorgt, dass Unternehmen zukunftsfit werden und dabei ihre unbezahlbare DNA am Leben lassen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in transform! 03/2018, dem Magazin für den digitalen Wandel.

 


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