Als man begann, Dörfer, Städte und Länder mit Schienen miteinander zu vernetzen, gab es ein über viele Jahrzehnte unüberwindbares Hindernis: die Schaffung eines einheitlichen und verlässlichen Zugfahrplanes. Das anfängliche Chaos zeigt sehr schön, was passieren kann, wenn man vernetzt ohne davor zu standardisieren. [...]
In Zeiten, als es noch keine standardisierten Zeitzonen gab, lebte jeder Ort nach seiner eigenen Façon, genannt „bürgerliche Zeit“ beziehungsweise „Ortszeit„, die sich nach dem jeweiligen Sonnenstand richtete. Als man noch mit Pferd oder per pedes unterwegs war, fielen die Zeitunterschiede von Ort zu Ort so gut wie nicht auf, doch mit Einführung der Eisenbahn, die große Strecken in kurzer Zeit bewältigen konnte, kam Chaos in die Sache.
Um Ordnung in die schnell wachsenden nationalen Eisenbahnnetze zu schaffen, entschlossen sich die Länder, zusätzlich zu den Ortszeiten eigene „Eisenbahnzeiten“ einzuführen, die sich in der Regel an der Ortszeit der jeweiligen Hauptstadt orientierten. So gab es etwa die „Berliner Zeit„, die „Pariser Zeit“ oder die „Römische Zeit„. Damit existierten außerhalb der Hauptstädte zwei unterschiedliche Systeme: Die Ortszeit und – sobald man den Bahnhof betrat – die Bahnzeit, was die Gefahr, einen Zug zu versäumen, deutlich erhöhte, wenn man etwa beide verwechselte.
Habsburgermonarchie als Sonderfall
War die parallele Existenz zweier unterschiedlicher Zeiten schon verwirrend genug, in den Ländern der Habsburgermonarchie war die Sache noch wesentlich schwieriger. Hier war beispielsweise nicht die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien jener Ort, nach dem sich die Bahnzeit richtete, sondern Prag, das im 19. Jahrhundert ebenfalls Teil der Monarchie war. Der Grund: Man wollte den Verkehr zwischen Deutschland und Österreich möglichst reibungslos gestalten, daher war die böhmische Metropole, deren Strecken an das deutsche Bahnnetz angeschlossen waren, der ideale Kandidat.
Das führte im deutlich wichtigeren Verkehrsknotenpunkt Wien zu einem gewissen Verdruss. Als etwa im Jahr 1871 auf Plakaten Vergnügungszüge von Wien nach Pressburg (Bratislava) angekündigt wurden, stand auf diesen: „Abfahrt 7 Uhr 15 Minuten (Prager Zeit).“
Daraufhin schrieben die Wiener Zeitungen: „Was geht denn uns die Prager Zeit an? Wollen’s uns auf der Eisenbahn vielleicht böhmisch machen?“ Oder: „Sollen wir vielleicht vor der Abfahrt g’schwind nach Prag telegrafieren, wieviel Uhr es is?“
Um zu wissen, wann der Zug von Wien in Richtung Pressburg abfuhr, musste man tatsächlich die Prager Ortszeit im Kopf haben: Diese differierte von der Wiener Ortszeit um acht Minuten. Das bedeutete, dass der Zug, der im Fahrplan mit 7 Uhr 15 (Prager Zeit) angeschrieben war, in Wirklichkeit bereits um 7 Uhr 07 Wiener Ortszeit abfuhr.
Es waren nicht nur überregionale Züge von der Verwirrung betroffen. Selbst der Fahrplan der Zahnradbahn, die ab dem Jahr 1874 auf den Hausberg der Wiener, den Kahlenberg, führte, richtete sich nach der Prager Zeit, während die direkten Anschlussmöglichkeiten, wie die Donauschiffe, nach der Wiener Zeit verkehrten.
Standardisierung à la Österreich
Erschwerend kam hinzu, dass die Prager Zeit nicht das gesamte Gebiet der Habsburgermonarchie abdeckte. Besonders deutlich wurde das am Fahrplan der Südbahn und ihren Nebenlinien: Die Strecke Wien-Triest richtete sich zwar nach der Prager Zeit, ging es aber auf demselben Streckensystem in Richtung Osten, war die Zeit von Ofen-Pest (Budapest) bestimmend. Die Züge auf der Südbahn-Nebenstrecke Lienz nach Franzensfeste (Fortezza in Südtirol) verkehrten wiederum nach der sogenannten Münchner Zeit.
Es lag auf der Hand, dass dieses Chaos aufgeräumt gehörte, ein neues System musste her. Wie für dieses Land nicht untypisch, wählte man zu diesem Zweck den Weg in Richtung Vergangenheit: Man besann sich wieder auf die Bedeutung der individuellen Ortszeiten und entschloss sich, diese in die landesweite Organisation der Zugfahrten einfließen zu lassen.
Was bedeutete das für die derart gequälten Reisenden auf den österreichisch-ungarischen Bahnlinien? Stieg jemand beispielsweise in Wien in den Zug, um in Richtung Salzburg zu fahren, galt für ihn zunächst die Wiener Zeit. Kam er in den Einflussbereich von St. Pölten, musste er seine Uhr um drei Minuten zurückstellen, um im Besitz der „richtigen“ Zeit, also St. Pöltener Ortszeit, zu sein. In Pöchlarn betrug der Unterschied zu Wien fünf Minuten, St. Valentin sieben Minuten, Salzburg 13 Minuten. Das bedeutete eine kontinuierliche Anpassung an die jeweilige Ortszeit.
Das eigentliche Problem entstand, als man dieses dynamische System in den statischen Fahrplänen abzubilden versuchte, wofür sie nicht geeignet waren. In den neuen Fahrplänen waren nun nicht wie zuvor die zu einer Standardzeit (z.B. Prager Zeit) relativen Abfahrts- bzw. Ankunftszeiten vermerkt, sondern die individuellen Abfahrts- bzw. Ankunftszeiten unter dem Primat der jeweiligen Ortszeit. Wer seine Reise vernünftig planen wollte, musste folglich wissen, in welcher zeitlichen Relation Wien, St. Pölten, St. Valentin oder Salzburg zueinander standen.
Die Konsequenz war, dass mehr Züge versäumt wurden denn je. Da der Unmut der Betroffenen staatsgefährdende Ausmaße annahm, gab man die österreichische Lösung bereits ein Jahr nach der Einführung auf und kehrte zu dem ebenfalls unzufriedenstellenden System mit Prag als Orientierungspunkt zurück.
Weltzeit als Lösung
Der Schritt in die richtige Richtung fand bei der Österreichisch-Ungarischen Eisenbahndirektoren-Konferenz im Jahr 1888 statt. Man erkannte endlich, dass sich globale Probleme, wie jene der Harmonisierung von Zugfahrplänen, nicht regional, sondern sich nur international lösen ließen – es brauchte also eine „Weltzeit“. Die Idee dazu stammt vom kanadischen Ingenieur und Landvermesser Sandford Fleming, der 1876 wieder einmal seinen Zug versäumt hatte. Sein Konzept mündete in die Washingtoner Meridiankonferenz des Jahres 1884, bei der Greenwich als Bezugs-Meridian für die Weltzeit definiert sowie die Erde in 24 Zeitzonen eingeteilt wurden. Österreich-Ungarn führte die auf die Stunden-Zonenzeit fußende Mitteleuropäische Zeit am 1. Oktober 1891 ein. Heimischer Bezugspunkt ist seit dem der 15. Meridian, der nicht durch die einst in Sachen Bahnzeit dominierenden Städte Prag oder Wien führt, sondern wesentlich unspektakulärer durch die Waldviertler Gemeinde Gmünd.
Welche Lehren lassen sich für den digitalen Wandel ziehen?
Durch Vernetzung, wie z.B. bei Einführung der Eisenbahn kommen Unterschiede ans Tageslicht, die davor nicht bemerkt wurden oder kaum eine Rolle spielten. Das gilt für Systeme genauso wie für Mitarbeiter. Schließen sich Arbeitskollegen etwa mit Hilfe eines Collaboration-Tools zusammen, merkt man schnell, dass jeder seine eigene „Ortszeit“ hat und dass sich Tempo und Rhythmus nicht selten fundamental unterscheiden. Fahrpläne (Richtlinien) helfen unter diesen Bedingungen nur bedingt, da diese ein gewisses Maß an Synchronität voraussetzen.
Ein weiterer Aspekt, der durchaus Relevanz für den digitalen Wandel hat: Bei der Einführung der Eisenbahn ist man nach dem Prinzip „Zuerst vernetzen und dann sehen, was dabei herauskommt“ vorgegangen – eine Methode, die offenbar auch heute ihre Gültigkeit hat. Klüger wäre es gewesen, die zu erwartenden Schwierigkeiten mit den unterschiedlichen Ortszeiten vorab zu lösen. Und das geht nicht ohne Standardisierung noch bevor die ersten Schienen gelegt werden. Mit anderen Worten: Change Management beginnt schon lange vor dem Change.
Dieser Artikel ist ursprünglich in transform! 1-2/2018 erschienen, dem Magazin für den digitalen Wandel.
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