Digitaler Arbeitsschutz: Strategien gegen die E-Mail-Flut

Der TÜV Rheinland hat Leitlinien entwickelt, wie Unternehmen Mitarbeiter vor digitaler Überlastung schützen können. E-Mail, Smartphone und Co. überlasten sie regelmäßig. [...]

Das „Plöng“ einer einkommenden E-Mail reißt schon wieder aus der Konzentration. Das Arbeitshandy klingelt um 19:30 Uhr. Und an einem Sonntagmorgen gibt keine Croissants, sondern Arbeits-E-Mails. Die moderne Arbeitswelt stresst: Viele Menschen müssen ständig, auch nach Feierabend oder am Wochenende, per Smartphone oder E-Mail erreichbar sein. Das führt zu krankmachendem Stress, vor allem bei Führungskräften. Stress und Überlastung wiederum führen zu Depressionen, Herzkreislauf-Erkrankungen und Burnout-Symptomen. Obwohl der genaue Zusammenhang zwischen einer Erkrankung und Stress noch nicht geklärt ist – das moderne Arbeiten tut nicht gut. Doch Chefs können ihre Mitarbeiter schützen.
Einen ersten Schritt ist nun der TÜV Rheinland gegangen. Um Mitarbeiter aus der „ständigen digitalen Erreichbarkeit“ zu nehmen, haben die Prüfer zusammen mit dem Slow Media Institut ein neues Prüfverfahren geschaffen: den „Digitalen Arbeitsschutz“. Er ist ein Modul des Prüfzeichens „Ausgezeichneter Arbeitgeber“, mit dem sich Firmen mit einer guten Personalpolitik zertifizieren lassen können. „Das Thema Digitaler Arbeitsschutz passt als Modul hervorragend dazu“, erklärt Arne Spiegelhoff vom TÜV Rheinland. Auditoren gehen in Unternehmen und untersuchen, inwieweit eine Strategie vorhanden ist, mit der Mitarbeiter vor Überlastung und Überreizung geschützt werden. „Wir prüfen zum Beispiel, ob es konkrete Regelungen für die Trennung von Arbeit und Privatem gibt oder für die Kommunikation am Wochenende“, sagt Spiegelhoff. Auch wenn es den Digitalen Arbeitsschutz erst seit einigen Wochen gibt, seien Firmen sehr interessiert. „Das Thema schwelt im Grunde bei allen Unternehmen“, sagt Spiegelhoff. „Nur so strukturiert und zusammenhängend gab es das bisher einfach noch nicht.“
Unternehmen tun sich offenbar schwer, mit den neuen Anforderungen der Arbeitswelt umzugehen. Im Prinzip leiste man Entwicklungshilfe, sagt Sabria David, die Entwicklerin des Interaktionsmodells Digitaler Arbeitsschutz, vom Slow Media Institut. Die Medientheoretikerin hat gemeinsam mit dem TÜV Rheinland die Leitlinien entwickelt und das theoretische Grundgerüst für das Zertifikat geschaffen. Das Slow Media Institut forscht an den Auswirkungen des Digitalen Wandels, der zur Überlastung führt. „In den letzten zehn Jahren hat es eine rasante Entwicklung der neuen Technologien gegeben“, erklärt David. „Doch die Gesellschaft hat noch keine Kulturtechnik entwickeln können, wie man mit ihnen umgeht.“ Eine gelungene Integration der neuen Technologien in der Arbeitswelt hat noch nicht stattgefunden. Und das ist das Problem.
DER MENSCH KANN MIT E-MAILS NICHT UMGEHEN
David vergleicht es mit einem anderen Medium. „Wenn man einen Brief bekommt, ist die Reihenfolge klar. Öffnen, lesen, handeln. Aber mit E-Mails funktioniert das nicht – sonst liest man den ganzen Tag nur E-Mails und kommt nicht zum Arbeiten.“ Der moderne Mensch kann mit E-Mails nicht umgehen und verschickt einfach zu viele davon. Die digitale Überforderung hat vermutlich auch gesundheitliche Auswirkungen – doch dessen sind sich nur die wenigsten wirklich bewusst.
Das Zertifikat soll keine Warnung vor der „bösen E-Mail“ sein. Ziel des Digitalen Arbeitsschutzes sei es nicht, die Technologien zu verteufeln, stellen David und Spiegelhoff klar. „Wir wollen, dass die Menschen sie sinnvoll nutzen und dass ein positives Leistungsklima entsteht. Es geht uns nicht darum, etwas zu verbieten“, betont David. Sie wolle vielmehr ausloten, wo zum Beispiel die E-Mail-Nutzung anfängt, schädlich zu werden. Die Dosis macht das Gift.
Um die Mitarbeiter zu schützen, braucht ein Unternehmen Rahmbedingungen – doch die sind selten, wie auch TÜV-Rheinland-Mann Spiegelhoff erklärt. Zwar gibt es Vorreiter wie Daimler oder VW, die den Feierabend garantieren wollen oder die E-Mails im Urlaub löschen lassen. Doch derartige Überlegungen haben bei weitem nicht alle Firmen angestellt. „Einige Unternehmen wollen sich Leitlinien zeigen lassen, wie man überhaupt eine Digitalstrategie entwerfen kann.“ Vorschriften, wie Technologien zu nutzen seien, werde der TÜV Rheinland nicht machen, gibt Spiegelhoff Entwarnung. Eine einheitliche Lösung ist ohnehin nicht sinnvoll: Nicht in allen Unternehmen kann es klappen, die E-Mails während des Urlaubs löschen zu lassen. „Eine solche Regelung verlangt ganz klar Absprachen und ist nicht für jeden sinnvoll“, meint David.
KEINE E-MAIL FLUT MEHR
Statt starrer Regeln definiert das Modul Anforderungen an die Organisation und die Prozesse im Sinne des „digitalen Arbeitsschutzes“. Das Unternehmen selbst muss die Maßnahmen durchsetzen. Ein typischer Ansatz ist das Eindämmen der E-Mail-Flut: „Man kann zum Beispiel darauf verzichten, Leute in CC zu setzen“, schlägt Spiegelhoff vor. Immer das ganze Team auf den Verteiler zu setzen, löst einen riesigen Informationsfluss aus. „Man muss sich bei so etwas immer bewusst sein, dass man Informationen nicht nur rezipiert, sondern auch produziert“, erklärt David. Wie sinnvoll eine Regel fürs E-Mail-Verschicken sein kann, erlebte der TÜV Rheinland im Selbstversuch.
Während der Entwicklung des Standards habe sich in seinem Team ein Standard etabliert: E-Mails wurden mit einem Buchstaben gekennzeichnet, ein A steht für „Ich erwarte eine Antwort“, ein R steht für „Ich erwarte eine Review“ und ein I steht für „Nur zur Information“. Damit habe sich der E-Mail-Verkehr deutlich reduziert. Selbst so kleine Sachen hätten einen riesigen Effekt, meint Spiegelhoff. „Jeder ist glücklich über jede E-Mail, der er nicht erhält“, fügt David hinzu.
RUF NICHT AN!
Erreichbarkeit während und nach der Arbeitszeit ist ein weiterer wichtiger Aspekt des Digitalen Arbeitsschutzes. Jeder Anruf und jede E-Mail verhindert, dass sich der Wissensarbeiter fokussiert. Für konzentriertes Arbeiten können „Mono-Tasking-Zeiten“ sorgen: Gemeinsam legt das Team einen Zeitraum fest, während dem man das Postfach schließen und das Telefon abstellen kann. So kann man Mitarbeiter in den Flow bringen.
Festlegen sollte ein Unternehmen auch, ob der Mitarbeiter nach Feierabend noch erreichbar ist oder nicht. Zwar könne man niemanden dazu zwingen, den Blackberry nach 18 Uhr auszuschalten, fügt Spiegelhoff hinzu. „Aber wenn eine Firma klare Richtlinien hat, dann muss eine Erreichbarkeit am Wochenende eine Ausnahme sein.“ Wie in Notfällen. Das Smartphone ausschalten und Energie zu tanken – für viele Mitarbeiter und Führungskräfte bislang noch eine utopische Vorstellung.
DER CHEF IST ENTSCHEIDEND
Die Führungsseite spielt beim Digitalen Arbeitsschutz eine entscheidende Rolle. „Man muss im Team und mit den Führungskräften, hinauf bis zur Geschäftsführer-Ebene, besprechen, welche Rahmenbedingungen und Richtlinien es geben sollte“, sagt David. An die muss man sich halten. Die eigenen Vorschriften unbewusst auszuhebeln, ist leider allzu leicht. „Eine Führungskraft muss sich bewusst sein, was sie macht, wenn sie am Freitagnachmittag noch sieben E-Mails losschickt“, gibt die Medientheoretikerin ein Beispiel. Aus Sicht des Vorgesetzten ist die Handlung verständlich, schließlich will er vor dem Wochenende seinen Schreibtisch aufräumen. Dann könne es aber zu kaskadierenden Antworten kommen, warnt David – schließlich will kein Mitarbeiter der letzte sein, der antwortet. „Hier klaffen die Vereinbarungen und die Rahmenbedingungen auseinander. Das wichtige ist: Die Regeln müssen gelebt werden“, sagt David. Hilfreich könne es da sein, Sätze wie „Reicht am Montag“ hineinzuschreiben. Kurzer Satz – große Wirkung.
Bleibt eine klare Kommunikation über Regeln aus, kann das zu großem Stress führen: David erzählt die Geschichte einer Führungskraft, die auch am Wochenende immer ans Telefon ging. Das setzte seine Mitarbeiter unter Stress, denn sie glaubten, dass sie auch immer das Berufshandy dabei haben müssten. Das war genau das Gegenteil von dem, was die Führungskraft hatte erreichen wollen. „Er wollte erreichbar sein, damit seine Mitarbeiter den Rücken frei haben. Aber das hat er ihnen nicht gesagt“, erzählt David. Er ging davon aus, dass seine Kollegen das schon wüssten. Ganz klar: Ein wesentlicher Aspekt der Digitalstrategie ist es auch, die Regeln zu formulieren.
TEIL DER UNTERNEHMENSKULTUR
Um zu garantieren, dass die Manager sich auch daran halten, sollten Mitarbeiter beispielsweise ihre Vorgesetzten auch danach beurteilen dürfen. „Dieses würde dann in die Wertung mit einfließen“, sagt Spiegelhoff. Die Verankerung des Themas in der Führungskultur ist ein zentraler Baustein der Prüfung. Ebenfalls sinnvoll sei ein Beauftragter, an den sich Mitarbeiter wenden können, wenn die Führungskraft sich nicht an die vereinbarten Regeln hält. „Eine Schulung und Sensibilisierung der Führungskräfte ist sehr wichtig“, sagt Spiegelhoff. „Sie sind es, die den Umgang der Mitarbeiter mit den Medien letztlich bestimmen.“ Eine der ersten Anforderungen der Zertifizierung sei es daher, dass der Digitale Arbeitsschutz Teil der Unternehmenskultur sei. Setzt eine Firma das Thema nicht stringent um, gibt es auch kein Zertifikat. Die Auszeichnungen werden im Jahresrhythmus überprüft – wer sich nicht daran hält, dem entzieht der TÜV Rheinland das Siegel.
Trotzdem dürfte es einigen Unternehmen schwer fallen, das Prinzip durchzusetzen. Wer nach Feierabend oder am Wochenende keine E-Mails beantwortet, läuft Gefahr, unten auf der Karriereleiter steckenzubleiben. Genau da setzt der Digitale Arbeitsschutz an: Wenn sich alle daran halten, bleibt keiner auf der Strecke. Doch dafür muss der Vorgesetzte mit gutem Beispiel voran gehen. Wenn der Chef auch mal das Smartphone ausschaltet, kann das für seine Mitarbeiter nur positiv sein.
* Bettina Dobe ist Redakteurin der deutschen CIO.


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