Die Digitalisierung wirbelt viele Geschäftsmodelle durcheinander. Hierarchien ¬verlieren an Bedeutung, Mitarbeiter verlangen mehr Einfluss, und viele Führungspositionen gibt es nur noch auf Zeit. [...]
Die Digitalisierung lässt von der Industriegesellschaft nichts übrig“, behauptet Alexander Markowetz. Der Informatiker und Digitalisierungsforscher aus Bonn kritisiert das phantasielose Lavieren vieler Führungskräfte und deren fehlende Strategie. Oftmals steckten Unternehmen in starren Hierarchien fest, während Startups ihre eingeführten Geschäftsmodelle fragmentierten und Teile davon als eigene Dienstleistungen über ihre Plattformen anböten. Branchen wie der Buch- und Einzelhandel, Hotels und Taxiunternehmen lernten diese Lektion bereits schmerzhaft. Auch in Versicherungskonzernen oder der Automobilbranche geht die Angst um.
BRAUCHT MAN NOCH CHEFS?
Thorsten Petry, Professor für Organisation und Personal-Management an der Wiesbaden Business School, glaubt, dass die Digitalisierung Unternehmenskulturen und damit auch Führungsstile verändern wird: „Keine Chefs mehr – das wird nicht funktionieren. Hierarchien verschwinden nicht vollständig“, sagt Petry. Er präsentiert ein Fünf-Punkte-Modell für Führung, das die Elemente Vernetzung, Offenheit, Agilität, Partizipation und Vertrauen enthält.
In Workshops vermittelt Petry diese Idee den Unternehmen. Dabei räumt er ein, dass sich durch ein zweitägiges Seminar kein Unternehmen verändern lässt. „Viele Firmen haben erkannt, dass sie den intern gepflegten Führungsstil umstellen müssen. Manche probieren Scrum, Design Thinking oder andere Methoden aus.“ Petry empfiehlt Firmen, ihre Trainingskataloge anzupassen und Führungskräfte mit Coachings und Mentoring weiterzubilden.
ALTE „FLURSCHÄDEN“ SIND EIN HINDERNIS
Alexander Markowetz merkt an, dass Manager und Personalverantwortliche ihre Attitüde ändern sollten. „In vielen Unternehmen herrscht eine berechtigte Kultur des Misstrauens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Firmen haben immense Flurschäden angerichtet. In der Vergangenheit hieß Reorganisation stets, dass die Hälfte der Mannschaft gehen muss“, so Markowetz. Wenn jetzt dieselben Manager predigten, dass sich das Unternehmen neu erfinden müsse, löse das vor allem Ängste vor einem neuerlichen Jobabbau in der Belegschaft aus. Diese Sorgen seien auch berechtigt, die Digitalisierung koste Jobs. „Deshalb müssen Firmen klar sagen: Wenn du uns hilfst, deinen Job wegzurationalisieren, versprechen wir dir einen anderen Arbeitsplatz oder einen sanften Übergang in die Rente“, schlägt der ehemalige Juniorprofessor vor.
Die Angst vor der Arbeitslosigkeit bremst den Elan und die Begeisterungsfähigkeit vieler Wissensarbeiter. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben immer mehr verschwimmt – oft zum Nachteil der Arbeitnehmer. Markowetz empfiehlt: „In einer Wissensgesellschaft muss der Blick auf die Mitarbeiter holistisch sein. Manager müssen ihre Angestellten als Menschen mit einem Privatleben und entsprechenden Sorgen sehen und verstehen. Wer eine Hypothek für das Haus abbezahlt und schulpflichtige Kinder hat, braucht Sicherheiten, um sich für die Digitalisierung und Veränderungen zu begeistern.“
Auf der Visitenkarte von Hermann Arnold steht „Ermutiger“. Der Gründer, ehemalige Chef und jetzige Aufsichtsratsvorsitzende von Haufe-Umantis erklärt den Titel so: „Digitalisierung bedeutet einen fundamentalen Wandel für Unternehmen. Ich will Mitarbeiter ermutigen, Dinge auszuprobieren, auch wenn sie schiefgehen können.“ Bekannt wurde Arnold, weil er seinen Chefposten aufgab und seinen Nachfolger von den Mitarbeitern wählen ließ. Keine leichte Entscheidung, das räumt Arnold ein, doch er ist immer noch davon überzeugt. In einem Youtube-Video schildert er seine Erfahrungen und fordert Manager auf, es selbst einmal auszuprobieren.
SPIRALFÖRMIGE KARRIEREWEGE
Kurze Zeit nach dieser Entscheidung wollten sich auch andere Führungskräfte von Haufe-Umantis von den Mitarbeitern auf den Posten wählen lassen, den sie schon innehatten. Sie versprachen sich davon mehr Unterstützung für ihre Arbeit. Heute entscheiden die Mitarbeiter jedes Jahr über ihre Chefs mit. „Es ist hilfreich, wenn sich Führungskräfte einmal im Jahr hinsetzen und überlegen, was sie erreichen wollen und ob sie immer noch die richtige Person auf dem Chefsessel sind.“
Arnold nennt es „spiralförmige Karriere“, wenn ein Manager einige Zeit als Teammitglied arbeitet, neue Erfahrungen sammelt und sich dann eventuell wieder für eine Leitungsposition bewirbt. „Wir haben eine Unternehmenskultur entwickelt, in der es leichter ist, zurückzutreten, eine andere Rolle anzunehmen, ohne das Gesicht zu verlieren“, erklärt Arnold.
Allerdings räumt er ein, dass manche Abgewählte es vorziehen, das Unternehmen zu verlassen. Doch für diejenigen, die sich auf den neuen Stil einlassen, sei es ein Gewinn. „Wenn es immer nur nach oben gehen muss, erhöht das den Druck, besonders für diejenigen, die selbst spüren, dass sie nicht so gut sind“, merkt der 41-jährige Arnold an. Meistens zollen die anderen Führungskräfte demjenigen Respekt, der zurücktritt. Schwieriger kann es sein, den ehemaligen Chef wieder ins Team zu integrieren, besonders wenn die Kollegen unzufrieden mit dessen Führungsstil waren. Zurücktreten heißt auch, auf einen Teil des Gehalts zu verzichten. Keine leichte Aufgabe, denn Freunde oder die eigene Familie werten das oft als Versagen.
Doch Arnold betont, dass Unternehmen mit kleineren Schritten beginnen können, etwa indem sie Mitarbeitern ein Mitspracherecht einräumen, wenn neue Kollegen an Bord kommen. Haufe-Umantis ermutigt seine Angestellten auch, sich in die Firmenstrategie einzumischen. „Es braucht Innovationen, verbunden mit Mitarbeitern, die Mut haben, Dinge auszuprobieren.“ Erfolgreiche Ideen integriert das Unternehmen in den Arbeitsalltag. In Zeiten der Digitalisierung neue Führungsstile zu erproben, ist ein gewagtes Experiment in Echtzeit. Auch wenn es keine Patentrezepte und Musterlösungen gibt, sollten sich Unternehmen auf den Weg machen. Die Veränderungen zu ignorieren heißt, Chancen zu verpassen und möglicherweise auf dem Abstellgleis zu landen.
MEHR MITSPRACHE
- Digitalisierung heißt, Vertrauen zurückzugewinnen
- Digitalisierung lässt sich nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit den Mitarbeitern umsetzen
- Die klassischen Aufgaben eines Chefs verändern sich, mehr Führungsaufgaben werden nur noch auf Zeit vergeben
- Vertrauen sowie mehr Mitsprache der Mitarbeiter helfen Unternehmen, weiterhin erfolgreich zu sein.
*) Ingrid Weidner arbeitet als freie Journalistin ín München
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