Große Erwartungen an HR & Recruiting

Die Personal-Abteilungen sind zum Schlüsselfaktor für den Unternehmenserfolg geworden. Sie müssen sich wandeln und neue Aufgaben wahrnehmen. [...]

Foto: Isabelabela/Pixabay

Zu all den Krisen, mit denen sich Unternehmen derzeit herumplagen müssen, kommen weitreichende Herausforderungen im Personalsektor:  Kurzarbeit und Homeoffice haben die Unternehmensbindung gelockert, hybrides Arbeiten hat ungeahnte Erwartungen an die Work-Life-Balance geweckt, Personal- und Fachkräftemangel lähmen ganze Branchen.

Die Human-Resources-Abteilungen müssen nicht nur geeignete Mitarbeiter finden, sondern auch dafür sorgen, dass sie dem Unternehmen lange erhalten bleiben.

Aufgaben für HR

Wieland Volkert ist Country Manager Central Europe & Netherlands bei UKG. Die Ultimate Kronos Group ist ein Technologieunternehmen, das Dienstleistungen in den Bereichen Workforce-Management und Human-Resources-Management anbietet. Seine Lagebeurteilung fällt kritisch aus: „Die Unternehmen müssen sich gerade mehreren Herausforderungen gleichzeitig stellen.

Zum einen dem eklatanten Fachkräftemangel, der in Zukunft noch zunehmen wird. Die Babyboomer gehen in Rente und hinterlassen eine Lücke, die sich auf absehbare Zeit kaum füllen lässt. Zum anderen sehen wir gleichzeitig – bedingt durch die Pandemie –, dass Arbeitnehmer den Wert von Arbeit radikal anders definieren.“

Es gehe vermehrt um Werte wie Sinnfindung, Selbstbestimmung und Nachhaltigkeit, und das quer durch alle Altersgruppen.

Hinzu kommt: Mitarbeitende wollen heute, dass die Unternehmen auf ihre individuelle Lebenssituation eingehen. Haben sie früher das Privatleben um die Arbeit herum organisiert, geht es jetzt darum, Leben und Arbeit so zu gestalten, dass sich beides gut in Einklang bringen lässt.  

„Die Beschaffung von neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und die Reaktion auf Beschaffungsversuche von anderen Unternehmen bei unserer Belegschaft gehören derzeit zu den größten Herausforderungen in der HR-Branche“, meint deshalb Christian Diestelkamp, Senior Consultant und Mitglied der Geschäftsleitung bei Abat, einem SAP-Dienstleister und Produktanbieter, der sich vorwiegend auf die Sektoren Automotive, diskrete Fertigung und Logistik spezialisiert hat.

Ziel müsse es sein, Abwerbeangebote von anderen Unternehmen in vielerlei Hinsicht unattraktiv erscheinen zu lassen.

Auch Kristina Gerwert, Leiterin Human Resources beim Dortmunder IT-Dienstleister Adesso, zählt den Fachkräftemangel zu den größten Herausforderungen für ihr Aufgabengebiet. Sie weist darüber hinaus auf die digitale Transformation des HR-Managements als weiteren Stressfaktor hin und fordert:

„Human Resources muss eine Balance zwischen den Anforderungen von New Work und Mitteln zur Mitarbeiterbindung finden. Flexible Arbeitsgestaltung und räumliche Freiheit dürfen der emotionalen Bindung von Mitarbeitenden zum Unternehmen nicht im Weg stehen.“

Social-Media-Recruiting

Unter dem Begriff Social-Media-Recruiting sind alle personellen Maßnahmen zusammengefasst, bei denen Unternehmen soziale Netzwerke nutzen. Neben den bekannten Plattformen wie Facebook, Instagram und Youtube und Karriere-Netzwerken wie Xing und Linkedin gehören dazu auch Diskussionsforen oder Dienste, die nur in speziellen Branchen bekannt sind.

Das Arsenal des Social-Media-Recruitings umfasst passive Maßnahmen wie die Pflege eines Karriereportals, aber auch die Moderation von Communities und die aktive Suche und Ansprache von Kandidaten. Die Vorteile liegen in der schnellen und unkomplizierten Kommunikation mit potenziellen Kandidaten. Zudem können diese sich via Mobile Recruiting schneller bewerben, was die viel zitierte Candidate Experience verbessert.

„Social Media wird in jeder Hinsicht eine wichtige Rolle übernehmen“, ist Volkert überzeugt. „Für die Imagepflege, Positionierung oder Direktansprache sind Plattformen wie Xing oder Linkedin heute nicht mehr aus dem Personalwesen wegzudenken. Die Plattformbetreiber arbeiten kontinuierlich daran, zusätzliche Services rund um die Rekrutierung anzubieten.“

„Recruiter müssen dort aktiv sein, wo sich potenzielle Fachkräfte ohnehin tummeln“, sagt Kristina Gerwert.

„Besonders erfolgreiches Social-Media-Recruiting betreiben Unternehmen, die ihre eigenen Mitarbeitenden als Markenbotschafter einspannen. Sie genießen großes Vertrauen in ihren Netzwerken und öffnen mit ihren Social-Media-Aktivitäten Türen zu Talenten, die der HR-Abteilung verschlossen bleiben.“

Work-Life-Balance

Zufriedenheit senkt die Fluktuationsrate

Die Mitarbeiterfluktuation war schon immer ein wichtiges Kapitel im dicken Buch der Unternehmenssorgen.Schließlich geht dadurch oft auch wertvolles Know-how verloren. Doch hat es sich in letzter Zeit noch einmal verschärft.

Im Zuge der Pandemie haben sich die Einstellungen vieler Angestellten gewandelt. Wer unzufrieden im Homeoffice war, bei dem ist oft die Sehnsucht nach einer neuen beruflichen Herausforderung gewachsen.

Laut statistischem Bundesamt lag die Fluktuationsrate im Jahr 2021 bei 29,8 Prozent. Zugrunde liegt die Gleichung Fluktuationsquote = (Abgänge: durchschnittlicher Personalbestand) x 100 %. Für Christian Diestelkamp ist die wichtigste Aufgabe deshalb das Zuhören, um Sorgen und Wünsche wahrzunehmen.

„Ziel muss es sein, eine starke und breite Kontaktfläche zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu erhalten, damit sich jede einzelne Person als das fühlen kann, was sie ist: höchst relevant.“

Was kann HR also tun? Wieland Volkert nennt einige grundsätzliche Stellschrauben: „HR muss sich zunächst als strategische Abteilung verstehen, die als Bindeglied zwischen Unternehmensführung und Belegschaft fungiert. HR ist das Kulturzentrum eines Unternehmens.

Anders wird HR ihre Aufgabe nicht mehr richtig ausfüllen können. In dieser Eigenschaft gestaltet HR die Employee Experience, also die Erfahrungen und Erlebnisse, die ein Mitarbeiter mit seinem Unternehmen täglich erlebt, vom Eintritt bis zum Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis.“

„Themen wie das Gehaltsniveau und Arbeitszeitenregelungen sind Hygienefaktoren, die stimmen müssen, aber nicht mehr entscheidend sind für die Bindung von Fachkräften.“

Kristina Gerwert – Leiterin Human Resources bei Adesso

Zunehmende Bedeutung für die Erwartungen von Beschäftigten und Bewerbern gewinnt auch das Thema ethische Führung. Wenn sich Mitarbeitende nicht gleichbehandelt fühlen, zum Beispiel beim Gehalt, oder wenn sie das Gefühl haben, dass die Führung ihnen gleichgültig gegenübersteht, kann das schnell zu Kündigungen führen. Der Arbeitsmarkt war schließlich selten so aufnahmefreudig wie heute.

„Auf operativer Ebene hat die HR ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, die Stimmung in der Belegschaft zu ergründen“, führt Volkert weiter aus. Dazu gehöre eine richtig eingesetzte Mitarbeiterbefragung, die als Frühwarnsystem mögliche Unzufriedenheiten frühzeitig aufdecken könne.

„Ganz wichtig dabei ist, dass das Feedback der Mitarbeitenden auch zu Änderungen führt. Bekommen die Angestellten den Eindruck, dass ihre Kritik oder Verbesserungsvorschläge nicht ernst genommen werden, dann sind solche Maßnahmen kontraproduktiv.“

„Themen wie Gehaltsniveau und Arbeitszeitenregelungen sind Hygienefaktoren, die stimmen müssen, aber nicht mehr entscheidend sind für die Bindung von Fachkräften“, findet Kristina Gerwert. Anderes sei wichtiger geworden:

„Ehemals weiche Faktoren wie Work-Life-Balance oder Freiraum für Fortbildungen sind heute handfeste Argumente im Wettbewerb um kluge Köpfe. Hinzu kommen die Themen Nachhaltigkeit und Purpose. Sowohl ökologisches Wirtschaften als auch ein positiver Sinn der Arbeit helfen dabei, Talente zu gewinnen und Fachkräfte zu halten.“

Hybride Arbeit aus HR-Sicht

Auch die Entwicklung flexibler Arbeitszeitmodelle fordert Personalverantwortliche zunehmend, zunächst wegen ganz praktischer Probleme: Wie koordiniert man die Platzbelegung bei einer geschrumpften Bürogröße?

Wie schafft man den regelmäßigen Austausch innerhalb eines Teams und zwischen Mitarbeitern und Unternehmen, wenn die Mitarbeiter über längere Zeit nicht im Büro vor Ort sind, und wie muss die IT-Ausstattung im Homeoffice aussehen?

Noch wichtiger ist in den Augen von Kristina Gerwert aber ein ganz anderer Faktor:

„Hybrides Arbeiten erfordert vor allem eines – Vertrauen. Dazu ist elementar wichtig, als Unternehmen integrativ zu wirken, ein sehr gutes Wissensmanagement zu etablieren und klare Absprachen zu treffen, auf die sich alle Beteiligten verlassen können.“

Christian Diestelkamp sieht noch ein weiteres Problem:

„Das persönliche Zusammentreffen – ein wichtiger Kitt in der Mitarbeiterbindung – findet nicht mehr automatisch zufällig auf dem Gang statt, sondern muss aktiv herbeigeführt werden, ohne dass sich ein Gefühl von Zwang einstellt.“

Speziell durch die bei Remote-Arbeit übliche direkte Aneinander-Planung von Terminen ohne Pause träten schnell Überlastungssituationen auf. Zusammen mit der Nichterreichbarkeit von Personalverantwortlichen könne schnell ein Gefühl der Hilflosigkeit und eine Entfremdung vom Unternehmen entstehen.

People-Management und People Analytics

Die persönliche Entwicklung und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden ist in den Mittelpunkt gerückt. Gegebenes lediglich zu verwalten, ist nicht mehr zeitgemäß.

Eine Steigerung der Produktivität ist mit unzufriedenen Mitarbeitern unmöglich. Neben People Management begegnet man dabei immer wieder auch dem Begriff People Analytics. Die Personalverantwortlichen lernen allmählich, datenbasiert zu arbeiten.

„Ein modernes People-Management basiert auf mehreren Säulen“, erklärt Wieland Volkert. „Zunächst muss HR sich mehr denn je um die Kultur des Unternehmens kümmern. Die große Kunst: HR muss die Kultur des Unternehmens in Prozesse, Dokumente und Informationsangebote übersetzen.“ 

Big Data und Analytics sollen dabei den HR-Abteilungen helfen, ein besseres Bild davon zu bekommen, was die Mitarbeitenden bewegt, welchen Informationsbedarf sie haben, wie einzelne Angebote ankommen und wie sich Prozesse verbessern lassen.

So würden es Arbeitnehmer zum Beispiel nicht mehr hinnehmen, vier Wochen auf die Genehmigung einen Urlaubsantrags zu warten.

Kristina Gerwert sieht die Thematik positiv:

„Richtig analysiert liefert Big Data wertvolle Erkenntnisse für das Recruiting: Wo ist meine Zielgruppe unterwegs, was sind ihre Präferenzen und wie sieht ihr Nutzerverhalten aus? Daten liefern Antworten auf all diese Fragen.“

Im People- Management ermögliche Big Data die Nutzung von Clustern, basierend auf Merkmalen wie Gehalt, Alter, Arbeitszeiten und Weiterbildung. Eine Beobachtung dieser Cluster diene dann als Ausgangspunkt für zielgerichtete Maßnahmen.

„Big Data, People Analytics und Ähnliches haben in der Personalarbeit nichts zu suchen.“

Christian Diestelkamp – Senior Consultant und Mitglied der Geschäftsleitung bei Abat

Ausdrücklich anderer Meinung ist hier Christian Diestelkamp. Er fällt ein scharfes Urteil:

„Big Data, People Analytics und Ähnliches haben in der Personalarbeit nichts zu suchen. Die persönliche Daten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein äußerst schützenswertes Gut, das einer Personalabteilung anvertraut ist. Da verbieten sich Algorithmen und KI-Tools explizit.“

Flight Risk – Influencer Analysis
(Quelle: SAP)

Nachhaltige Mitarbeiterbindung

Um Talente, Personal und Fachkräfte zu halten, müssen sich Unternehmen deutlich mehr einfallen lassen als Corporate Benefits und kurzlebige Gehaltserhöhungen. Das Thema Mitarbeiterbindung muss in den HR-Abteilungen eine Top-Priorität einnehmen.

„Bei Abat nennen wir das manchmal das GMV-Prinzip: den gesunden Menschenverstand“, berichtet Christian Diestelkamp. Was er damit meint, erläutert er an zwei Beispielen: „Vertrauen: Ich will in einer vertrauensvollen Umgebung arbeiten. Damit sind nicht Appelle nach dem Motto, Wir vertrauen uns jetzt alle gegenseitig‘ gemeint – das wäre nur Theater. Vielmehr geht es darum, dass das Unternehmen den Mitarbeitern Vertrauen entgegenbringt und damit auch auf Kontrollmaßnahmen verzichtet. Dazu kommt ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, etwa indem konsequent konkurrierende persönliche Ziele verhindert oder abgeschafft werden.“

Das zweite Beispiel: Selbstwirksamkeit. „Wir alle wollen Dinge zum Guten bewegen. Dafür brauchen wir Freiraum. Freiraum, um Probleme des Kunden lösen, ohne dass mich sinn- oder nutzlose Regelwerke behindern und einschränken. Freiraum, um neue Ideen ausprobieren und umsetzen zu können. Freiraum, um private mit beruflichen Belangen so gut es geht in Einklang bringen zu können.“

„Wirklich abheben können sich Unternehmen durch ihre Kultur und eine Employee Experience, die die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt stellt und deren jeweilige Arbeits- und Lebenssituationen berücksichtigt“, stimmt Wieland Volkert zu.

Und auch Adesso-Expertin Kristina Gerwert sieht in der Unternehmenskultur den zentralen Baustein der Mitarbeiterbindung:

„Für uns steht die Kultur eines Unternehmens über allem. Sie ist schwer zu fassen – und doch täglich zu spüren. Sie stellt das Fundament des Erfolgs dar. Sie reicht vom Umgang miteinander über die Zusammenarbeit mit Kunden bis hin zu gelebten Werten wie Nachhaltigkeit oder Diversität. All diese Aspekte prägen eine Unternehmenskultur und damit den Wohlfühlfaktor für Mitarbeitende. Eine wertschätzende Kultur bindet, wenn sie wirklich gelebt und auch mal herausgefordert wird.“


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