Digitale Transformation ist für viele Unternehmen vor allem eine Frage von Tools und Technologien. Prozesse, Organisation und Kundendenken bleiben dagegen außen vor. BearingPoint fordert von Firmen mehr Mut zum kulturellen Wandel ein. [...]
Liest man von einer „Illusion der digitalen Transformation“, merkt man unweigerlich auf. Die Formulierung klingt deftig, aber sie wirft doch Fragen auf. Vor allem jene, worin denn eigentlich die „Illusion“ besteht? Findet die digitale Transformation am Ende gar nicht statt? Wird den Anwendern mit dem Thema gar etwas vorgegaukelt?
Digitalisierungsmonitor
Das haben die Berater von BearingPoint nicht im Sinn, die ihren aktuellen Digitalisierungsmonitor tatsächlich mit „Die Illusion der digitalen Transformation“ überschrieben haben. Die Studienautoren Alexander Broj und Carsten Schulz zielen eher darauf ab, dass sich die digitale Transformation in vielen Firmen bislang als Oberflächenphänomen ohne Tiefgang entpuppt.
„Natürlich ist es richtig und wichtig, Produktionsmaschinen mit Sensoren auszurüsten, einen Webshop anzubieten oder Kundendaten auszuwerten“, schreibt das Berater-Duo. „Doch solche Maßnahmen sind inkrementell, sie werden den Wettbewerb nicht entscheiden oder ein Unternehmen gegen Disruptionen wappnen.“
Broj und Schulz bemängeln, dass der entscheidende Faktor häufig ausbleibe: ein Kulturwandel mit Fokus auf den Kunden und ihren Bedürfnissen, der mit einer gänzlichen Neuausrichtung des Unternehmens einhergeht. Stattdessen sei die Digitalisierung häufig nur ein „Wassermelonen-Projekt“, so BearingPoint. „Außen leuchtet sie beruhigend grün, doch innen herrscht Alarmrot.“
Gut 280 Unternehmen haben die Berater für die Studie befragt, 16 davon noch einmal in Tiefeninterviews. Speziell an dieser Umfrage ist, dass sowohl Top-Manager als auch Vertreter des mittleren Managements und einfache Mitarbeiter geantwortet haben. Alles in allem lässt sich sagen, dass sich im Grunde alle Firmen als betroffen durch die Digitalisierung sehen – nur eine Minderheit aber in dem umfassenden Sinne, wie BearingPoint es für richtig empfindet.
Die Kernaussagen der Studie
- 1. Ist-Zustand: Die Technologie ist neu, aber sonst ändert sich wenig.
- 2. Treiber und Bremser: Der Veränderungsdruck kommt von außen. Doch die Organisation bremst.
- 3. Handlungsmuster: Die Bereitschaft zu grundlegenden Neuerungen ist gering. Richten soll es ein digitaler Heilsbringer.
16 Prozent der Befragten geben an, die Bedeutung der Digitalisierung voll zu verstehen und bereits konkrete Dinge umzusetzen. 29 Prozent sagen, Handlungsfelder und Maßnahmen seien klar. Mit 42 Prozent ist jedoch der Anteil am größten, für den das Thema noch nicht wirklich Praxis ist. Die Firmen sagen, die Theorie sitze und Erkenntnisse seien da.
Die Kritik der Berater setzt vor allem dort an, dass zwei Fünftel der Befragten die digitale Transformation aus der Perspektive der Technologien, Tools, Features und Daten angehen. Angesichts dieses Technologie-Augenmerks bleibt laut BearingPoint die Veränderung von Organisation, Prozessen und Strukturen zu weit außen vor. Ein Drittel der Unternehmen hat bei der Digitalisierung vor allem Transformation, Geschäftsmodelle und KPIs im Blick, für 21 Prozent geht es vor allem um Automatisierung, Virtualisierung und Agilität.
Mittelstand oft weiter als Großunternehmen
Schritte von einer rein angebotsorientierten Ausrichtung hin zur Orientierung am Kundenwunsch haben laut Studie zwar viele Firmen schon gemacht, aber in der Regel stehen sie irgendwo in der Mitte zwischen diesen Polen. Der Mittelstand sei hier oft weiter als viele Großunternehmen, betonen die Studienautoren.
Zu einem „Umparken im Kopf“ habe die Digitalisierung bisher lediglich 10 Prozent der Mittelständler und sogar nur 5 Prozent der Großunternehmen veranlasst, moniert BearingPoint. Firmen agieren aus Sicht der Berater zu konservativ. Sie seien zwar empfänglich für neue Technologien und Geschäftsmodelle, ansonsten aber nicht zu umfassendem Wandel bereit. Nur jedes Zehnte der befragten Unternehmen wähnt sich an der Spitze der digitalen Transformation, das Gros von 49 Prozent sieht sich „mittendrin und gut dabei“.
Als interne Herausforderung nennen 58 Prozent die Kultur, 51 Prozent die Struktur, 44 Prozent die Innovationsfähigkeit, 38 Prozent das Prozessdesign, 37 Prozent die Tools, 29 Prozent die Technologie und 24 Prozent die Kompetenzen.
Das Problem ist die Unternehmenskultur
Klar ersichtlich ist, dass zu wenig Geld respektive ausbleibende Investitionen in IT-Technologie nicht die entscheidende Bremse sind. „Budget und Ressourcen stimmen in der große Mehrheit der Fälle bislang“, konstatieren die Berater. Das Problem sei stattdessen die Unternehmenskultur, die vielerorts durch Risikovermeidung statt Experimentierlust geprägt sei. „Traditionell, hierarchisch, vertikal, funktional statt agil, horizontal und prozessorientiert“, schreiben die Autoren. „Hier haben insbesondere die Großunternehmen Nachholbedarf.“
Der Veränderungsdruck komme in den meisten Fällen von außen, nämlich von den Kunden. „Nur 40 Prozent haben eindeutige Veränderungen durch neue Tools und Funktionalitäten in der IT ausgemacht“, heißt es in der Studie. Veränderte Mitarbeiteransprüche werden nur in 10 Prozent der Firmen wahrgenommen.
Digitalisierung noch nicht das Hauptthema
„Nicht einmal jedes zwanzigste Unternehmen verfügt über eine klar definierte Umsetzungsverantwortlichkeit für das Feld Digitalisierung, z. B. einen CDO“, kritisiert BearingPoint. „Stattdessen ist Digitalisierung weitgehend ein Unterthema von IT- oder Marketingfunktionen.“
Als Zielmarke definieren 60 Prozent der Befragten ein Hybridmodell, bei dem agile und herkömmliche Arbeitsweisen nebeneinander existieren. „Digitalisierung ja – aber bitte nur das Nötige“, kommentieren die Autoren bissig.
Die internen Probleme seien zwar erkannt, aber niemand lege mit ihrer Lösung los, so BearingPoint. „Es scheint vielmehr ein Warten auf den digitalen Erlöser zu sein“, so Broj und Schulz. „Dringend gesucht: Der Messias (gerne von außerhalb des Unternehmens), der mit Vision und Tatkraft der Organisation einen Ruck gibt.“ Tatsächlich nennen 25 Prozent der Befragten als Erfolgsfaktor die Identifizierung und Förderung visionärer Köpfe, aber nur 16 Prozent wollen insgesamt eine „Can do“-Attitüde etablieren.
5 Ratschläge von den BeraternDie Bestandsaufnahme auf Basis der Studienergebnisse kombiniert BearingPoint mit fünf Empfehlungen zum Start der digitalen Transformation. Diese lauten:
- 1. Kunde, Kunde, Kunde: „Sprechen Sie mit Ihren Kunden“, raten die Consultants. „Nutzen Sie Daten, Analysen und kognitive Verfahren, um neue Aspekte rund um Kundenzufriedenheit, Kundenverhalten usw. zu entdecken und für Ihr Unternehmen nutzbar zu machen.“
- 2. Handeln wie ein Startup: Gegenüber etablierten Firmen-Tankern haben Startups den Vorteil des höheren Tempos auf ihrer Seite. Andere Firmen können das laut BearingPoint simulieren, indem sie für Neuentwicklungen eigene funktionsübergreifende Projektteams zusammenstellen, die unabhängig entscheiden können. Alternativ können auch bestehenden Teams mehr Freiräume gewährt werden.
- 3. Investieren wie ein Risikokapitalgeber: „Bearbeiten Sie mehrere Projekte parallel statt nacheinander“, empfiehlt BearingPoint – auch wenn das gerade für Mittelständler eine personelle wie finanzielle Herausforderung bedeute. Außerdem sollten Unternehmen wie Venture-Capitalists, die oft mit anderen Finanziers zusammenarbeiten, Verbündete für gemeinsame Investitionen suchen.
- 4. Den „Tipping Point“ zum Umdenken erreichen: Der kulturelle Wandel lässt sich nach Meinung der Autoren zum Beispiel dadurch beschleunigen, dass die Fehlerkultur verändert wird. Im Mittelpunkt sollte stehen, was aus Fehlern gelernt werden kann. Den Start dafür kann wiederum die Einrichtung eines speziellen Teams sein, dass unter anderem Feedback von Mitarbeitern, Kunden und Zulieferern sammelt und analysiert.
- 5. IT den geschäftlichen Bedürfnissen anpassen: „Sorgen Sie dafür, dass Teile Ihrer IT-Ressourcen eindeutig innovativen IT-Lösungen zugeordnet werden, damit weder Tagesgeschäft noch Digitalisierung leiden“, raten die Autoren. „Denn die digitale Transformation kann nur gelingen, wenn das operative ‚Business‘ diese Transformation treibt und die IT dabei hilft, diese mit geeigneten Methoden und Technologien umzusetzen.“
* Werner Kurzlechner schreibt für CIO.de.
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