Maßgeschneidert in die Zukunft

Der Arbeitsplatz der digitalen Transformation hat das Potenzial, das Verhältnis zwischen Mensch und Technik neu zu definieren. Entscheidend dabei ist, den Spagat zu schaffen zwischen den individuellen Bedürfnissen und der globalen Strategie. [...]

"Wie wäre es mit einem Anzug von der Stange, der sich beim Tragen automatisch anpasst?" (c) rawpixel.com/Pexels
"Wie wäre es mit einem Anzug von der Stange, der sich beim Tragen automatisch anpasst?" (c) rawpixel.com/Pexels

Am 14. Juli 1779 erschien in der Pressburger Zeitung (heute Bratislava) ein Artikel mit einem Brief der berühmten Wiener Pianistin Maria Theresia von Paradis, worin sie sich bei ihrem Gönner Wolfgang von Kempelen für eine Erfindung bedankte, die ihr Leben vollkommen verändert hatte. Hofrat Kempelen, bekannt durch Entwicklungen wie den „Schachapparat“ oder die „Sprechmaschine“, hatte der blinden Künstlerin die Möglichkeit geschaffen, ohne die Unterstützung durch eine weitere Person über große Entfernungen zu kommunizieren. Zunächst lehrte er die 20-Jährige das Lesen und Schreiben mit Hilfe von ausgeschnittenen Buchstaben. Danach schenkte er ihr eine Art Setzkasten mit beweglichen Lettern, die sie ertasten konnte, dazu einen Handdruckapparat, die in Kombination ihr ermöglichten, ohne die Hilfe anderer Briefe zu setzen und im Handumdrehen auszudrucken. Damit war sie im Besitz eines ganz auf ihre Bedürfnisse maßgeschneiderten Arbeitsplatzes – und das hundert Jahre vor Entwicklung des ersten funktionsfähigen deutschen Schreibapparats für die Brailleschrift und mehr als zweihundert Jahre vor Einführung eines digitalen Arbeitsplatzes der Zukunft, der heute die Runde macht.

Obwohl sich die Technik in der Zwischenzeit rasant weiterentwickelte, hat sich das Prinzip nicht verändert. Es geht heute wie damals darum, die ganz persönlichen Anforderungen des Nutzers zu erfüllen und nicht „irgendwas mit Technik“ zu machen, das dem einen vielleicht helfen mag, den anderen aber vor größere Probleme stellt, als er vor Einführung einer neuen Technologie hatte.

Kulturwandel ante portas

Vor Beginn der digitalen Transformation beherrschte der 08/15-Arbeitsplatz die Büros: grauer Kasten unter dem Tisch, Maus, Tastatur, kleiner Bildschirm und Standard-Applikationen. Daran hat sich äußerlich nicht viel verändert (abgesehen davon, dass die Monitore größer geworden sind und dass weitere Endgeräte hinzugekommen sind) – aber zumindest hat ein Umdenken begonnen. Man hat erkannt, dass die neuen Technologien das Zeug dazu haben, die Arbeitswelt neu zu definieren. Das heißt, dass sich die Art, wie wir kommunizieren und zusammenarbeiten grundlegend ändert, was nichts anderes ist als der Wandel der Arbeitskultur. Und es bedeutet auch, dass die Technik das Potenzial hat, sich ganz nach den Bedürfnissen des Einzelnen zu richten. Nahed Hatahet (siehe dazu auch den Artikel ab Seite 12 dieser Ausgabe) vergleicht das Prinzip mit einem Anzug von der Stange, der sich beim Tragen an die Körperform anpasst.

Falsch verstandene Individualisierung

Unternehmen, die diesem Prinzip nicht folgen und glauben, dass die digitale Transformation einfach eine Fortführung des bisherigen Paradigmas ist, haben in der Regel mit massiven Problemen zu kämpfen. Eric Schott, Mitgründer und Geschäftsführer bei Campana & Schott, hat sich die wichtigsten Gründe für das Scheitern eines Digital Workplace-Projekts angesehen. „Viele Unternehmen konzentrieren sich bei der Einführung von Collaboration-Tools auf die Technik und vergessen, die Mitarbeiter mitzunehmen. Bei Digital-Workplace-Projekten geht es aber nicht in erster Linie um neue Technologien, sondern darum, wie Menschen arbeiten und vor allem zusammenarbeiten“, schreibt Schott in unserer Schwesternzeitschrift Computerwoche. Ein weiterer Grund sei der fehlende Mut: „Viele Unternehmen suchen nach dem Königsweg für die Transformation. Doch genau dieser ist so individuell und facettenreich wie das Unternehmen selbst. Darum lautet die Devise: Ausprobieren! Wenn Unternehmen sich scheuen, mit neuen Technologien oder Cloud-Services zu experimentieren, werden sie die für sich beste Lösung kaum finden können. Wichtig ist ein kontrolliertes Ausprobieren innerhalb kleiner, überschaubarer Pilotprojekte.“ Weiters führe laut Eric Schott der Wunsch nach Individualisierung zu einem Wildwuchs an Tools, wenn er von der IT-Abteilung nicht berücksichtigt wird.

Die Beispiele zeigen, dass es eine unternehmensweite Strategie braucht, die einerseits den berechtigten Wunsch nach Individualisierung von Technik und andererseits die Administrierbarkeit und Sicherheit dieser Technik unter einen Hut bekommt.

Auf technischer Ebene spielt hierbei die künstliche Intelligenz eine wesentliche Rolle, da sie dazu prädestiniert ist, maßgeschneiderte Arbeitsplätze zu schaffen, die gleichzeitig auf einer gemeinsamen Plattform verwaltbar sind.

Welche Auswirkungen KI auf das Unternehmen und speziell auf jenen Teil hat, von dem jeder Kulturwandel ausgehen muss – dem Top-Management – hat vor kurzem Microsoft in einer Studie untersucht (siehe auch S. 26). „Erfolgreiche Führungskräfte haben die Wichtigkeit von KI erkannt und nutzen die Technologie für operative Aufgaben, aber auch, um bessere Führungskräfte zu werden – also Wachstum voranzutreiben, die richtigen Prioritäten zu setzen und Menschen zu inspirieren. Durch KI wird Führung noch menschlicher und hilft Entscheidern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“, kommentiert Heike Bruch, Professorin am Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen.

Dass KI natürlich auch das Potenzial hat, in eine völlig andere Richtung zu gehen, indem es missbraucht wird, gehört zu den großen Themen der heutigen Zeit, das in großem Rahmen diskutiert werden muss. So hat eine Expertengruppe der Europäischen Kommission von mehr als 50 Wissenschaftern, Entwicklern, Rechtsexperten und Industrievertretern Ethikleitlinien zur Entwicklung vertrauenswürdiger künstlicher Intelligenz vorgestellt. „Nach diesem Rahmen wird erstens das ethische Fundament definiert, auf dem die Entwicklung von KI aufsetzen soll. Zweitens werden technische und nichttechnische Methoden festgehalten, die die Implementierung der ethischen Prinzipien über die gesamte Laufzeit einer KI ermöglichen sollen. Und drittens wird eine konkrete Checkliste für vertrauenswürdige KI bereitgestellt, die Entwicklern und Herstellern bei der Prüfung ihrer Systeme hilft“, so Der Standard.

Master-Studium Mensch und Technik

Die technologische Ebene ist jedoch nur ein kleiner Teil der digitalen Transformation. Wer den Arbeitsplatz der Zukunft einführen will, muss sich auch mit den Befindlichkeiten unterschiedlicher Organisationseinheiten und einzelner Mitarbeiter auseinandersetzen. Denn es macht zum Beispiel einen gewaltigen Unterschied aus, ob der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin seit 25 Jahren im Unternehmen ist oder gerade erst ins Berufsleben eingestiegen ist.

Um genau diese Herausforderungen anzugehen, bietet die Johannes Kepler Universität (JKU) in Linz ab kommenden Wintersemester ein Master-Studium mit Schwerpunkt auf Mensch und Technik an. „Die Mensch-Maschine-Schnittstelle ist ein Zukunftsfeld“, begründet JKU-Rektor Meinhard Lukas die Implementierung des neuen Fachs. Das neue Master-Studium soll daher eine Verbindung zwischen dem klassischen, allgemeinen Psychologiestudium und der praktischen Anwendung in einer digitalen Gesellschaft herstellen. „Unser Psychologiestudium ist einzigartig in Österreich. Die Studierenden bekommen eine fundierte psychologische Ausbildung und darüber hinaus ein umfassendes Wissen, um Veränderungsprozesse in Technik und Wirtschaft zu gestalten“, ergänzt der Vorstand des Instituts für Arbeits-, Organisations- und Medienpsychologie, Bernad Batinic.

Für die Absolventen des neuen Fachs stehen zahlreiche berufliche Möglichkeiten offen. Sie können etwa in einem Unternehmen Arbeitsplätze analysieren und gestalten, damit „die Beschäftigten zufriedener, gesünder und effizienter ihrer Arbeit nachgehen können. Damit senken sie Arbeitsunfälle, Burnout, Krankenstände und Fluktuation im Unternehmen“, so die Ankündigung der JKU. Ein weiterer möglicher Bereich ist das Gesundheitswesen: Hier beschäftigen sich die Experten „mit der Implementierung und Akzeptanz von neuen Technologien wie Pflegeroboter, elektronische Gesundheitsakten oder Fitness-Trackern zur betrieblichen Gesundheitsförderung.“

Design Thinking & Storytelling

Es gibt außer Psychologie noch andere Methoden, um den Wandel anzustoßen, indem man auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter eingeht. Zu den wichtigsten Mitteln gehört Design Thinking, das Technik radikal aus Nutzersicht definiert. Eine weitere, über Jahrtausende hinweg erprobte Methode ist Storytelling. Geschichten sprechen Menschen nicht nur inhaltlich an, sondern auch emotional. Damit schafft man die wichtigste Voraussetzung für den Wandel, denn Menschen lernen nur aus zwei Motiven: Freude oder Angst, wobei ersteres vorzuziehen ist. Egal für welche Methode man sich entscheidet: Am wichtigsten ist es, die Bedürfnisse des Einzelnen ernst zu nehmen – so wie es Wolfgang von Kempelen bei der blinden Pianistin Maria Theresia von Paradis vor genau 240 Jahren getan hat.

Der Artikel ist in transform! 01/2019 erschienen.


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