Psychohygiene im digitalen Wandel

Depressionen, Angststörungen und Konzentrationsschwäche: Die schöne neue Welt der Digitalisierung fordert ihre gesundheitlichen Tribute. Wie können wir uns schützen, um nicht völlig auszubrennen? Die Antwort hat Maria Geir, die eine Software-Schmiede für Psychohygiene gegründet hat und Unternehmen dabei berät, wie ihre Mitarbeiter:innen trotz digitaler Belastungen psychisch vital bleiben. [...]

Maria Geir, CEO von Octenticity: „Digitalisierung ist kein Ziel, sondern nur Mittel zum Zweck. Deswegen nutze ich sie auch. Und weil sich Technologie besser verkauft als schamanische Intuition.“ (c) feelimage/Matern

Depressionen, Angststörungen und Konzentrationsschwäche – die „schöne neue Welt“ der Digitalisierung fordert ihre gesundheitlichen Tribute. Das spürt vor allem die Generation Social Media, die mehrere Stunden täglich auf YouTube, WhatsApp oder Instagram verbringt. Jammern hilft nicht, denn Digitalisierung wird bleiben. Was also tun? Wie können wir uns schützen, um nicht völlig auszubrennen? Darüber sprach ich mit der wunderbaren Maria Geir, die österreichische Expertin für Psychohygiene, mentale Gesundheit und Digitalisierung sowie CEO von Octenticity ist. Sie hat eine Software-Schmiede für Psychohygiene gegründet und berät Unternehmen dabei, wie ihre Mitarbeiter:innen trotz digitaler Belastungen psychisch vital bleiben.

Frau Geir, Sie stehen als Mensch wahrhaftig für Psychohygiene und mentale Gesundheit. Warum entfacht gerade dieses Thema eine solche Leidenschaft in Ihnen? Und was hat das mit Digitalisierung zu tun?
Es hat mich schon immer fasziniert, wenn Welten aufeinandertreffen. Ich bin als Halb-Thai in Tirol mit zwei Kulturen aufgewachsen und habe noch viele weitere kennengelernt. Mein Vater ist Techniker und hat mir früh die Faszination für IT nähergebracht. Studiert habe ich dann jedoch International Finance und Innovationsmanagement.

Im Berufsleben verwandelte sich dieser Facettenreichtum in meine größte Stärke, weil ich wohl sowas wie ein menschlicher Universalstecker bin. Ich war immer in Schnittstellenfunktionen mit Transformationscharakter tätig: internationale IT-Projektkoordination, Stakeholder Management, Strategie, Diversity, digitale Produktentwicklung und agiles Coaching in der Organisationsentwicklung. In diesen Rollen gibt es eigentlich nur eine Kernkompetenz: die Bedürfnisse seiner Mitmenschen zu erkennen. Das wird nur leider oft vergessen, weil doch vermeintlich die Technik im Vordergrund steht. Digitalisierung ist jedoch kein Ziel, sondern nur Mittel zum Zweck. Deswegen nutze ich sie auch, um mein Fingerspitzengefühl über Octenticity für andere reproduzierbar zu modellieren. Und weil sich Technologie besser verkauft als schamanische Intuition.

Maria Geir: „Die größte Herausforderung unserer Zeit ist, den schmalen Grat zwischen Fülle und Überforderung zu meistern.“ (c) feelimage/Matern

Sie begleiten also Unternehmen auf eine individuelle Reise, die zu mentalem Wohlbefinden führen soll – insbesondere mit Ihren Beratungsleistungen, Methoden und einem Softwareprodukt. Warum brauchen Unternehmen vor allem jetzt diese Beratung?
Die größte Herausforderung unserer Zeit ist, den schmalen Grat zwischen Fülle und Überforderung zu meistern. Genau hier setze ich an: Ich verstehe den Octenticity-Beratungsansatz und unsere Software als Messinstrumente und Betriebsmittel, um Unternehmensziele unter gesunden Rahmenbedingungen zu erreichen. Denn ohne entsprechende Navigation und eine vernetzte Betrachtungsweise können gut gemeinte Einzelentscheidungen schnell ungewollt zu einem toxischen Gesamtsystem werden.

Wie kann gerade ein Softwareprodukt zu einer besseren Psychohygiene führen, wenn Menschen durch die Digitalisierung überlastet und auch nachweislich krank werden können? Ist das nicht ein Widerspruch?
Paracelsus sagte ursprünglich: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift.“ Gerade im Kontext der Digitalisierung geht es somit nicht um die Dosis, sondern um das Verständnis, wie ich Technologie einsetzen kann und vor allem, welche Konsequenzen das mit sich bringt. Ein Beispiel: Ich kann unter dem Deckmantel der Produktivität mit einer Collaboration-Software mein Team zu einer 24/7-Verfügbarkeit zwingen. Mit derselben Software kann ich im umgekehrten Extrem aber auch eine 4-Tage-Woche ermöglichen und damit brillante Freigeister anziehen, die vielleicht sogar mehr Output liefern und dabei Spaß haben. Nicht das verwendete Werkzeug ist der Schlüssel, sondern die Intention dahinter.

„Mentale Gesundheit ist nicht der Dauergrinsezustand, der uns oft in den Medien vermittelt wird. Mentale Gesundheit ist – analog zum Immunsystem – die Fähigkeit, seine Gestaltungskraft im ständigen Auf und Ab des Lebens zu bewahren und zu regenerieren.“

Maria Geir

Wertschätzung ist ein bedeutsames Thema in Ihrer Arbeit. Wie können Unternehmen wertschätzend agieren? Hat sich Wertschätzung im digitalen Miteinander verändert?
Ich glaube, dass jeder von uns die Sehnsucht in sich trägt, gebraucht zu werden. Wir möchten als wertstiftender Teil einer Gemeinschaft wahrgenommen werden. Mit der Digitalisierung ist ein Aspekt von Wertschätzung – nämlich jener, gesehen zu werden – sehr leicht verfügbar geworden. Nur nicht sonderlich nährend. Von den berühmten „15 minutes of fame“ kann ein Mensch lange zehren und Geschichten erzählen. Aber wen interessieren die 15 seconds of fame des letzten TikToks? Das ist für mich eine der großen Schattenseiten der Digitalisierung. Wir spüren, wie austauschbar wir geworden sind. Sowohl im Job als auch in unseren privaten Beziehungen. Weil Alternativen immer nur ein paar Klicks entfernt sind, wenn es kompliziert wird.

Aber genau hier sehe ich auch eine große Chance für Unternehmen. Ich ermutige Führungsteams, eine ernst gemeinte Gegenposition einzunehmen: Indem sie ihren Mitarbeiter:innen vermitteln, dass sie nicht nur bezahlte Erfüllungsgehilfen sind, sondern eine Vision mitgestalten. Dass ihr Engagement mit einer Reise belohnt wird, auf der man gemeinsam lacht, kontinuierlich lernt und seine größten Talente ausspielen darf. So entstehen tragfähige Beziehungen und nachhaltiges Wachstum.

Maria Geir: „Mit der Digitalisierung ist ein Aspekt von Wertschätzung – nämlich jener, gesehen zu werden – sehr leicht verfügbar geworden. Nur nicht sonderlich nährend.“ (c) feelimage/Matern

Menschen haben eine besondere Gabe: Wir können träumen. Etwas, was uns neben Emotionen, Kreativität und vielen anderen Qualitäten von intelligenten Maschinen unterscheidet. Wenn Sie an mentale Gesundheit denken, welche Träume und Visionen tragen Sie dazu in sich?
Ich träume von einer Renaissance der von Ihnen genannten Qualitäten in unserem beruflichen Alltag. Genau dafür sollte uns Technologie doch eigentlich freispielen, oder? Mentale Gesundheit ist nicht der Dauergrinsezustand, der uns oft in den Medien vermittelt wird. Auch nicht die komplette Abwesenheit von Schmerz, Trauer, Selbstzweifeln oder Melancholie. Mentale Gesundheit ist – analog zum Immunsystem – die Fähigkeit, seine Gestaltungskraft im ständigen Auf und Ab des Lebens zu bewahren und zu regenerieren.

Ich möchte Menschen persönlich und mithilfe von Technologie eine laufende Auseinandersetzung mit den eigenen Licht- und Schattenseiten ermöglichen. Denn nur daraus erwächst die Kraft, das notwendige Bewusstsein und die Freiheit, mit den ureigenen Fähigkeiten zu einer besseren Welt beizutragen. Dieser Gedanke führte zum Slogan von Octenticity: „Verändere dich und du veränderst die Welt.“ Ganz gleich, ob man das als Unternehmer:in, als Führungskraft, in seiner Expert:innenrolle, intellektuell, kreativ oder in einem sozialen Kontext ausleben möchte.

„Wir müssen uns sehr genau die Frage stellen, wann unser Anspruch zu heilen in einen Optimierungszwang umschlägt.“

Maria Geir

Biotechnologie, implantierte Chips und Maschinen, die alles über uns wissen sollen – diese „schöne neue Welt“ wirkt für viele auch bedrohlich. Was macht Ihnen im Zusammenhang mit Digitalisierung Angst?
1997 hat mich ein Film nachhaltig geprägt: GATTACA. Genmanipulation ist in dieser Negativutopie so weit fortgeschritten, dass alle intellektuellen, psychischen und physischen Eigenschaften bereits vor der Geburt standardmäßig optimiert werden. Das ist eine Vorstellung, die mir Angst macht. Blickt man sich in der Natur um, wachsen die farbenprächtigsten und schönsten Pflanzen oft auf besonders kargem Boden. „Verbessert“ man diesen Boden einseitig, indem man ihn düngt, wächst zwar mehr darauf, aber die Vielfalt geht verloren und ganze Ökosysteme werden unwiederbringlich zerstört. Die Konsequenzen werden uns erst viel später bewusst.

Ein unethischer Einsatz von Biotechnologie beim Menschen birgt ähnliche Gefahren. Wir müssen uns sehr genau die Frage stellen, wann unser Anspruch zu heilen in einen Optimierungszwang umschlägt, nur um einem aktuellen gesellschaftlichen Schönheits- oder Leistungsideal zu entsprechen. Die langfristigen Folgen werden sonst verheerend sein.

* Der Autor Nahed Hatahet ist Transformationsexperte, Speaker, Berater und Mentor.


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